Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung

Die einheimische Elite sondert sich ab

 Heinrich Hansjakob erteilt in einer Tagebucheintragung 1899 den “badischen Lehrern, die da meinen, den Dialekt könne man in der Schule nicht pflegen“, eine fürchterliche Rüge und verweist sie auf unser südliches Nachbarland:

“In der Schweiz fällt es keinem der biederen Volksschullehrer in Stadt und Land ein, auch nur ein einziges hochdeutsches Wort zu reden. Lehrer und Kinder verkehren lediglich miteinander in dem urkräftigen “Schwyzer-Dütsch“, das in einem einzigen Wort tausendmal mehr Mark hat als der preußische Sing-Sang in einer ganzen Herrenhaus-Rede. Es wird nun aber niemand zu behaupten wagen, die Schweizer könnten nicht richtig hochdeutsch schreiben. Sie können das nicht bloß so gut wie wir, sondern sie sind uns badischen Hochdeutschen im öffentlichen und im Geschäftsleben bedeutend über.“ (21)

Es war ein deutlicher Wink an die badische Elite, als Hansjakob seinen Bemerkungen über die Lehrer in der Schweiz hinzufügte:

“Auch gibt es bei ihnen keine so dummen Leute, die meinen, preußisch und hochdeutsch zu reden mache den Mann und die Bildung aus. Ihre Staatsmänner, ihre Bundes- und Nationalräte sprechen, so sie öffentlich auftreten vor dem Schwyzervolk, auch die Sprache dieses Volkes. Und das ehrt sie in meinen Augen in hohem Maße. Sie achten sich selbst, indem sie ihre Volkssprache achten.“

Offenbar hat damals schon (und wohl schon früher) die badische Elite die Angewohnheit gehabt, durch Gebrauch der Reichshochsprache brillieren zu wollen. Diese Angewohnheit hat sich seither nicht nur gefestigt, sondern der elitäre Kreis, der sich sprachlich abgesondert hat, ist erheblich größer geworden. Wenn Sie heute im Breisgau einen hohen Herrn isch, hasch und musch sagen hören, wetten Sie nicht darauf, daß es ein Badener ist! Es ist wahrscheinlich ein Schwabe. Und wenn hier eine vornehme, hochgestellte Dame ohne Wenn und Aber Alemannisch spricht, kann es leicht sein, daß sie eine Schweizerin ist. Unsere einheimische Oberschicht gefällt sich darin, hochdeutsch zu parlieren.

Besonders in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg hat der Anteil der Zugezogenen auch in Führungspositionen zugenommen und die alte hochdeutsche und verhochdeutschte Elite verstärkt. In einigen Bereichen sind die Führungskräfte ohnehin ganz überwiegend zugezogen, namentlich im Kultur- und Mediensektor. Auf anderen Gebieten ist es so, daß die Leitung einer Verwaltung, eines Vereins, einer Großgenossenschaft oder anderer Unternehmen gewöhnlich auch personell um so mehr der angestammten Bevölkerung entgleitet, je größer die Organisation wird. Diese Tendenz gibt es aber auch außerhalb Südbadens.

Nun ist nicht nur die Spitze der Hierarchie hochdeutscher geworden. Die Nachkriegsjahrzehnte haben starke Veränderungen der Erwerbsstruktur gebracht. Die Landwirtschaft wurde weit zurückgedrängt, der Bereich aber, in dem am meisten hochdeutsch gesprochen wird, wurde aufgebläht. Das ist der Dienstleistungsbereich, das heißt, Handel, Gastronomie, Erziehung und Lehre, Gesundheitswesen, Polizei und andere öffentliche Dienste bis hin zur öffentlichen Verwaltung, angefangen von der kommunalen Ebene bis hinauf zum Regierungspräsidium.

Der Dienstleistungssektor ist heute (1987) im Landkreis Emmendingen Arbeitgeber für über 50% der Beschäftigten, im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald für ca. 60%, in Freiburg für ca. 75% aller Beschäftigten (22).

In diesem ausufernden Sektor wird, verglichen mit dem produktiven Sektor oder gar mit der Landwirtschaft, viel mehr hochdeutsch gesprochen. Hier fanden nicht nur viele Zugezogene Arbeit, sondern auch viele Einheimische. Sie haben sich oft, gewollt oder ungewollt, sprachlich den Führungskräften und den zugezogenen Kollegen angepaßt. Oft fand diese Anpassung nicht nur im beruflichen, sondern auch im privaten Bereich statt: Man ist auch zu Hause zur schriftnahen badischen Umgangssprache oder zum Hochdeutschen übergegangen.

Es ist aber nicht naturnotwendig, daß die einheimische Elite und die gehobenen Berufs- und Bildungsschichten bei den Alemannen den Dialekt ablegen und zum Hochdeutschen als einziger Sprache übergehen. Wer Hochdeutsch, Englisch, Französisch, womöglich noch eine klassische Sprache und eine Computersprache kann, der wird doch kaum behaupten wollen, daß er nicht auch noch geschafft hätte, seine alemannische Muttersprache zu bewahren und zu pflegen. Der Grund, warum unsere Elite das Alemannische ablegt, muß ein anderer sein, vielleicht gibt es auch mehrere.

Zunächst ist ein gutes Hochdeutsch eines der notwendigen Mittel, um Macht zu erlangen und zu behalten. Zwar kann heute fast jeder Hochdeutsch, die Frage ist nur, welches. Jemand, der eine Karriere machen will, fragt sich:

* Ist nicht zumindest in der kulturellen Hierarchie des Breisgaus der Aufstieg leichter, wenn man erst gar nicht vom Alemannischen gebrandmarkt ist? Kommt man nicht besser vorwärts, wenn man sein Hochdeutsch akzentfrei oder, noch besser, mit mittel- oder norddeutschem Akzent spricht?

* Wird man in der hochkulturellen Kaste nicht beargwöhnt oder belächelt, wenn man - im Gespräch mit dem Mann von der Straße - andauernd ins Alemannische verfällt?

Solche Überlegungen (seien sie nun stichhaltig oder nicht) mögen Leute dazu bewegen, an sich zu arbeiten, bis der Makel (der alemannische Dialekt oder Akzent) aus allen spontanen Äußerungen verschwunden ist.

Ein weiterer möglicher Grund des Übergangs zum Hochdeutschen:

Man kann mit der “Hochsprache“ nicht nur Macht erlangen, sondern man kann sie (wie andere Sprachen) auch als Machtinstrument gebrauchen. In politischen Versammlungen oder in politischen Gremien, auf Elternabenden und bei vielen anderen Gelegenheiten bis hin zur Weihnachtsfeier des Taubenzüchtervereins gilt das ungeschriebene Gesetz, daß eine Aussage in Hochdeutsch ernster zu nehmen ist als eine inhaltlich gleiche Aussage im Dialekt. Nicht selten führt die unnötige Verwendung von Hochdeutsch in politischen Versammlungen bis hinunter auf die dörfliche Ebene dazu, daß ein Teil der Dialektsprecher, die im Hochdeutschen nicht sattelfest sind, nicht wagen, sich zu äußern. Der unnötige Übergang der einheimischen Elite zum Hochdeutschen bringt eine Entmündigung der Dialektsprecher mit sich, eine Entdemokratisierung des dörflichen Lebens.

Ein weiterer und wohl der entscheidende Grund, warum die einheimische Elite zum Hochdeutschen übergeht, ist der alemannische Minderwertigkeitskomplex. Freilich leiden unter ihm fast alle Breisgauer Alemannen, nicht nur Angehörige gehobener Schichten. Wir kommen weiter unten darauf zurück. (Siehe Papierausgabe.)

 Die Rache der Gedemütigten

 Wer sich einmal eine Weile vom Alemannischen verabschiedet hat, kann nicht ohne Anstrengungen wieder zurück (er sollte es aber doch versuchen). Wenn man immer weniger und seltener Alemannisch spricht, verliert man die Übung, es fallen einem nicht die richtigen Begriffe und Redewendungen ein. Wer immer hochgestochenes Hochdeutsch spricht, verlernt den schlichten Satzbau des Alemannischen. Ein Mensch, dem es zur Gewohnheit geworden ist, mit Hochdeutsch zu glänzen, läßt dann das Alemannische lieber ganz bleiben, als vom hohen Roß zu steigen und sich mit unbeholfenen Schritten vor dem Fußvolk zu blamieren.

Das ist sicher auch eine nicht zu unterschätzende Ursache, warum Zugezogene unsere Sprache nicht annehmen: Sie sind gewohnt, eine besondere kulturelle Macht oder wenigstens einen Vorsprung zu haben; wenn sie nun beginnen würden, alemannisch zu radebrechten, wären sie in der gleichen Situation wie so viele Alemannen, die in hochkultureller Umgebung hochdeutsch stammeln und mitleidig belächelt werden.

Daß man sich als unbeholfen blamiert und mitleidig belächelt wird, ist sicher vielmals nur Einbildung - von den Hochdeutschen wie von den Alemannen. Aber es gibt so etwas doch leider allzuoft auch in der Realität.

Vielleicht hat der geneigte Leser einmal ein vom Tourismus noch nicht allzusehr heimgesuchtes Land besucht - oder selbst auch einen verhältnismäßig wenig berührten Landstrich in Frankreich. Wenn Sie von der dortigen Sprache ein bißchen erlernt haben, wenn Sie ein paar Sätze so recht und schlecht sprechen konnten, werden Sie vom Stolz und der Freude der Einheimischen darüber berichten können. Anders bei uns hier am Oberrhein. Wenn Sie hier als Fremder versuchen, alemannisch zu reden, kann es ihnen passieren wie dem (zugezogenen) Hebelherausgeber Albrecht Goes. Als er einmal ein Gedicht von Hebel vorlas, sagte der Schweizer Politiker und Schriftsteller Carl Burckhardt zu ihm: “Sie können‘s nicht können, es ist schlechthin unlernbar.“ (23). Daraufhin versuchte es Goes nie wieder.

Heute ist man in der Schweiz entschieden weiter. Arthur Baur etwa schreibt in seiner ‘Praktischen Sprachlehre des Schweizerdeutschen‘ (24):

 “Schweizerdeutsch kann man ebenso gut erlernen wie jede andere Sprache, vorausgesetzt, daß man es ebenso ernst nimmt.“

 Wer die französischen Nasallaute oder das englische ‘th‘ und andere ungewohnte Laute lernen kann, kann selbstverständlich auch die Aussprache von Basel, des Wiesentals (Hebels Heimat) oder der Kaiserstuhlgegend erlernen. Man darf freilich keine innere Abneigung haben gegen die Sprache, die man lernen will, oder gegen das Volk, das sie spricht - dann nämlich geht es nicht.

Wenn ein Erwachsener nach Amerika auswandert und dort Englisch lernt, wird er es oft nicht mehr soweit bringen, daß man ihn für einen eingeborenen US-Amerikaner hält. Niemandem - ihm selbst nicht und seiner Umgebung nicht würde es einfallen zu sagen: Laß es bleiben, du lernst es doch nicht mehr wie ein Einheimischer! Doch bei uns hier am Oberrhein gibt es so etwas immer wieder.

Sich über Anfangsschwierigkeiten der Zugezogenen lustig zu machen, wenn sie Alemannisch lernen wollen, das ist die Rache der Gedemütigten. Man zahlt in gleicher Münze zurück, was man selber hundert Mal erlitten hat bei seinen Gehversuchen in der Staatssprache. Solches Verhalten ist typisch für kolonisierte und unterdrückte Völker und Landsmannschaften. Es ist aber im höchsten Maße unklug: Wer als alemannischer Dialektsprecher meint, sich das leisten zu können, trägt selbst dazu bei, daß die alemannische Sprache nicht erlernt wird, daß sie ins Abseits gerät.

An den Stamm- und Schreibtischen bestimmter Gebildeter

  Zum Klima in einem kulturell unterdrückten Land gehört auch, daß die unterdrückte Kultur als rückständig, reaktionär oder sonstwie anrüchig dargestellt wird. Und so sind auch im Breisgau an den Stammtischen von sich gehoben meinenden Bildungs- und Kulturschichten manchmal eigenartige Ansichten oder Andeutungen über das Alemannische bzw. die Alemannen zu hören. Doch entsprechende schriftliche Äußerungen sind selten, zumindest solche, die über die Qualität von Seitenhieben hinausgehen.

Eine verhältnismäßig bekannte, aber wenig erkannte Äußerung dieser Art ist Martin Walsers Artikel “Zweierlei Füß - über Hochdeutsch und Dialekt“ (25). Walser zählt hier (1977) den Dialekt zu den “Masken und Trachten der Biederkeit zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen“. Und er läßt in einem sprachlichen Hochseilakt einen Dunstkreis entstehen, in dem man ehemalige Nazis und den Dialekt auf einem Haufen stehen sieht. Ich bin darauf an einem anderen Ort (16) eingegangen.

Erst vor kurzem hat der in Freiburg niedergelassene ehemalige Liedermacher Walter Moßmann einen Fettnapf plattgestampft, als er zum Besten gab, die Anti-AKW-Bewegung am Kaiserstuhl und anderswo sei von alten Nazis mitbegründet worden. (In dieser Bewegung ist es dann zu einem Neuauf leben des Kaiserstühlerischen als Sprache der öffentlichen Kommunikation gekommen.) Die Offenheit, mit der Moßmann seine Thesen vorträgt, ist ungewöhnlich und dankenswert, so auch, wenn er schreibt:

 “Der Dialekt schleppt ja auch, wie die ganze Volkskultur, tausendjährige Vorurteile mit sich.“

  Wir setzen uns mit den Thesen Moßmanns im Anhang (S. 279ff) eingehender, aber keineswegs erschöpfend auseinander und brechen hier unseren Besuch in bestimmten Schreibstuben erst einmal ab. In den Sprachalltag im Breisgau, ins Rundfunkwesen, in die Schule und ins öffentliche Leben haben wir ebenfalls schon geschaut. Wir kommen nun zum inneren und innersten Bereich der Breisgauer Alemannen - bis hin an ihre Küchentische. (Siehe Papierausgabe.)