Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung

Seit 1843 - Alemannisch in Venezuela

Im Dezember 1842 brachen annähernd 400 Menschen aus Ortschaften des nördlichen Breisgaus und des Kaiserstuhls zu einer Reise ohne Wiederkehr auf - nach Südamerika in den venezuelanischen Urwald. In den meisten dieser Familien hatte Not und Hunger geherrscht; viele von ihnen mußten von den Heimatgemeinden einmal am Tag mit einer warmen Mahlzeit versorgt werden. In das Urwaldhochtal, das sie nun unter härtesten Bedingungen zu bewirtschaften begannen, brachten sie ihre alemannische Sprache mit und bewahrten sie in der spanischsprachigen Umgebung bis in die heutigen Tage. Aus der 'Colonia Tovar', wie dieses Venezuelanisch-Alemannien heißt, berichtet der deutsche Lehrer Walter Hammann:

"Die Tovarer blieben praktisch bis heute auf ihrem damals mitgebrachten Wortschatz und der entsprechend zeitgemäßen Aussprache und Ausdrucksweise sitzen, da sie ja von der Quelle ihrer sich auf allen Gebieten weiterentwickelnden Heimatsprache abgeschnitten waren." (Schriftenreihe der Stiftung Colonia Tovar, Heft 5/1991)

Dieses "ziemlich einheitliche 'Tovar-Ditsch"' beschreibt der gebürtige Weisweiler:

Nach meinem persönlichen Eindruck überwiegen darin die Elemente aus der Gegend von Endingen, Forchheim und Wyhl, wobei aber von dem typisch breiten Wyhler 'au' keine Spur mehr vorhanden ist. Auch scheinen sich gewisse Eigenheiten aus dem Herbolzheimer und Ettenheimer Raum bewahrt zu haben." (ebenda)

Hier eine Textprobe des Tovarer Alemannisch, die Hammann 1991 aufgenommen und erstmals veröffentlicht hat. Ich dokumentiere die von H. Hammann mir übergebene (neuere) Fassung; seine Schreibweise ist (mit Ausnahme seiner i-Zeichen) beibehalten. Sein 'á' wird gleich ausgesprochen wie sein 'è' ‚ beides entspricht unserem á. Im Text erzählt der alte Tovarer José Breidenbach von einem früheren Pfarrer in der Colonia:

" 'S Gèld, wun-r als no bikumme hét vum-e Kind taife odr vun-re Mèss, hét-r in e Tépfli tua, un wènn ihm ébbr ébbis gèh hét vum-e Kranke, wu si kumme sin go Mittl mache-n odr ébbis, hét-r gsait: "I hab d Mittl nit, awr i gib-dr dr Zéétl, koifs dert!"- "Un was bin-i schuldig?"- "Wènn-dr hésch, se gisch-mr ébbis. Wènn-dr nit hésch ..." se hán si-m nit gèh. Un wènn si-m ébbis gèh hàn, se hétr-s bsundr ghaa. Mit sèllem hèt-r koift was-r brücht hét. I bin allewiil biin-m gsii. Dènn wènn e Hièsige kummen-isch, so e Venezolanr wu krank gsii isch odr hét e Kranks ghaa, haw-i mièse goh go mi Vattr rièfen-un sage: "Kumm, dr Pfarr brücht di dert oowe, dènn dr muasch e-Sach iwrsétze". Mi Vattr hét als ihm e-Sach iwrsétzt, bis-r d-noo e-Sach gheerig vrschtande hét uf Spanisch ..."

Wer diesen Text unbefangen liest, kann natürlich nicht auf die Idee kommen, daß es die Mundart einer Urwaldsiedlung Südamerikas ist; man könnte tatsächlich meinen, es sei heutiges Alemannisch aus dem nördlichen Breisgau oder dem Kaiserstuhlgebiet. Man merkt allenfalls, daß der Wortschatz etwas knapp ist; mit 'Mittl' meint J. Breidenbach natürlich Medizin. Im Vergleich mit dem Tovar-Ditsch zeigt sich sehr deutlich die Beständigkeit des Alemannischen am Kaiserstuhl und in der nördlich angrenzenden Rheinebene.

Freilich sprechen heute nicht alle Tovarer mehr so gutes Alemannisch; W. Hammann berichtet:

"Es ist schon erstaunlich genug und ein Beweis für die Lebenskraft einer gewachsenen Stammessprache, daß trotz aller Mängel und Widrigkeiten im Lauf der Zeiten in Tovar überhaupt noch alemannisch gesprochen wird. (Natürlich hat dazu auch die fast hundert Jahre dauernde freiwillige Isolation beigetragen). Doch ist nicht zu übersehen, daß sich unter den jetzt ins Schulalter hineinwachsenden Kindern auch aus noch überwiegend 'ditsch' sprechenden Familien nur noch ganz wenige befinden, die mit ihren Eltern in dieser Sprache reden. Viele verstehen zwar noch alles, was im alten Dialekt mit ihnen gesprochen wird, von ihren Eltern ganz bewußt und gewollt. Aber sie weigern sich standhaft, in dieser Sprache zu antworten, die ihnen auf der Straße und in der Schule oft genug nur Spott einbringt! So ist zu befürchten, daß der alten, schönen Muttersprache der Tovarer nun doch das gleiche Schicksal droht, das der vor 50 Jahren auch hier noch ziemlich weit verbreiteten deutschen Schriftsprache längst widerfahren ist. Diese ist nämlich, zur Enttäuschung vieler Touristen, die keinen Dialekt verstehen, schon längst praktisch tot. Sie wird nur noch von den Familien der 'neudeutschen Zuwanderer' (Hoteliers, Geschäftsleute, Pensionäre etc.) gebraucht und vom größten Teil der 'echten' Tovarer nicht einmal mehr verstanden."

Wer fühlt sich bei dieser Schilderung nicht in manchem an die Situation im Elsaß erinnert, in einigem auch an die sprachliche Situation in den städtischen Ballungsgebieten des Breisgau? Was auch im Breisgau sehr angebracht wäre, geschieht jetzt seit wenigen Jahren wenigstens "drüben" durch die dankenswerten Bemühungen der 'Stiftung Colonia Tovar': Diese Stiftung (mit Sitz in Endingen) finanziert und organisiert nicht nur Unterricht in der Schriftsprache, sondern auch im Alemannischen! Im Breisgau müßte man weit gehen, um so etwas zu finden, derzeit (1992) gibt es dies wohl gar nicht. Sollte die alemannische Sprache des Breisgaus einmal untergehen, so wird man nicht sagen können, niemand habe sich um sie bemüht: Wenigstens drüben, in Südamerika, hat man es getan.

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Kurz vor Fertigstellung dieses Buches hatte der Verfasser noch Gelegenheit, selbst mit zwei Tovarern zu sprechen und Eigenheiten ihres Dialekts zu erfragen. Die beiden Eheleute sprachen den Dialekt aber nicht mehr sehr flüssig, nicht mehr frei von der Leber weg, sodaß nicht alle ihrer Angaben sicher erschienen. Die sicher scheinenden Ergebnisse dieser kurzen Befragung, die über den Eindruck des Breidenbach-Texts hinaus gehen, führe ich im Kasten S. 81 auf.

Die Vorfahren meiner Gesprächspartner stammen, wie sie sagten, aus Wyhl, Wasenweiler und Hessen. (Es kam nach den Breisgauern auch eine kleinere hessische Auswanderergruppe nach Tovar. Sie ist aber sprachlich offenbar weitgehend unter den Alemannen aufgegangen.) Der Herkunftsort ihrer Vorfahren war meinen Gesprächspartnen freilich nicht durch Überlieferung in der Familie bekannt, sondern durch die Auswandererliste, die der Tovar-Forscher Conrad Koch in seinem Buch veröffentlicht hat. Titel: 'La Colonia Tovar - Geschichte und Kultur einer alemannischen Siedlung in Venezuela', Genf 1970.

Die Namen meiner Gewährsleute sind im Kasten in der Form, wie sie sie aufschrieben, aufgeführt.

 

Einige Eigenheiten des Tovarer Dialekts

(Nach einem Gespräch mit Frau Magaly Misle Bergman und Alfredo Breidenbach Rudman aus Tovar bei ihrem Besuch Ende 1992 am Kaiserstuhl)

*'náimá' (irgendwo) oder ähnliches unbekannt, aber: ich haa-á amánord vrloorá (ich habe ihn irgendwo verloren) (vgl. S. 33f und Karte 2). Das ch in ích ist sehr schwach, fast ih (hörbares h).

*ích haa offenbar selten, normalerweise: ích hab, ích haw-á (ich habe ihn) (vgl. S. 62, 94 u. Kt. 26 S. 312).

*'Baum' heißt Baüm, 'Bau' heißt Boi (vgl. S. 49f und da Karten 4 und 5).

*das Wort 'didlig' (deutlich) war nicht bekannt (vgl. S. 108). Ein anderes Eigenschaftswort mit Endung -lig: s isch gfáhrlig (gefährlich) (vgl. S. 75f u. Karte 11).

*das Zungenspitzen-r wurde durchweg gebraucht (vgl. S. 87 und Karte 12).

*Man sagt dr Hund bolld (der Hund bellt) (vgl. S. 91 und Karte 13)

*'säi schdill' oder 'bis schdill' unbekannt (vgl. S. 119ff; Kt. 17); stattdessen: blib schdíll! (sei still!). Ein blib schdíll! habe ich auch in Sasbach notiert, ich habe aber nirgends systematisch danach gefragt.

*si deegái ghummá (Konjunktiv I; sie kommen angeblich) von der Gewährsfrau gebraucht; dem Gewährsmann nicht bekannt (!) (vgl. S. 114ff und Karte 16).

*si hewá ghái Zid (sie haben angeblich keine Zeit) von der Frau gebraucht, vom Mann nicht. Er: ích glab dr hed á Holzbái (er hat angeblich ein Holzbein) (vgl. S. 327, Karte 28).

*Der Artikel bei Mädchen- und Frauennamen ist d oder wird weggelassen; man spricht von si (sie) (also nicht s, áás (es)) (vgl. S. 271ff und Karte 21).

*Die Langform 'in miinená' (den Meinen) wurde nicht bestätigt, sondern: ích hab-s en miiná vrbodá (ich habe es den Meinen verboten) (vgl. Karte 35, S. 381).

*dr kann drei grammatische "Personen" bedeuten: dr muásch (du mußt), dr muáß (er muß), dr mián (ihr müßt) (vgl. Karte 39, S. 395).

*elimool u. mánkmool (manchmal) gebräuchlich, "manchmool" völlig unbekannt (vgl. S. 501.10).