Vom Verlust des alten Dorfes
Über Ober- und Niederrotweil ist eine mustergültige Ortsgeschichte erschienen, überwiegend geschrieben von Einheimischen
Die
Zeiten, da Ratsschreiber und Dorflehrer neben ihrem Hauptberuf Dorfchroniken und
Ortsgeschichten verfasst haben, ist längst vorbei. Ihre aus Liebe zur Heimat
entstandenen Bücher sind abgelöst worden von einer Reihe höchst ehrgeiziger
Projekte, deren Niveau oft staunen macht. Wo früher der historische Amateur
eigenwillig Akzente setzte, betten heute anmerkungsreiche Auftragsarbeiten, erfüllt
von intensiver historischer Kenntnis, die lokale Vergangenheit in die großen
Zusammenhänge.
Nur ist zu vermuten, dass dieser Zugewinn an Wissenschaftlichkeit nicht selten einhergeht mit Verlust an Lesbarkeit, an Leserinteresse: Solche Lokalhistorie bleibt nur zu leicht der Gemeinde selbst eher fremd. Damit aber können professionelle Geschichtsbücher nicht ausgleichen, was gegenwärtig in den Dörfern häufig zur Auseinandersetzung mit Geschichte anstiftet: die Erfahrung, dass dörfliche Eigenheiten verloren gehen. Traditionen der auf Landwirtschaft gestützten Kultur, die Mentalität des ländlichen Lebens weichen zunehmend der städtischen, arbeitsteiligen Wirtschaftsform, der "Dorf" nur mehr billigere, ruhigere, naturnähere Form des Wohnens ist. Diese Veränderung halten vor allem jene für einen Verlust, die aus dem Dorf gezogen sind, um selbst anders zu werden, und die nun bei ihrer Rückkehr nicht mehr das Dorf ihrer Kindheitserinnerung vorfinden: Alles oder doch vieles ist anders geworden.
Genau
hier setzt das Interesse an der Geschichte ein. Man darf sich dabei nicht täuschen:
Das Interesse am Dorf ist rückwärtsgewandt, erfüllt von Trauer um die
Verluste. Zukunft hat das Dorf aus solchem Blickwinkel nur, wenn es seine
Tradition, seine Geschichte bewahrt. Diese Nostalgie prägt auch einige Beiträge
zur hier exemplarisch vorzustellenden Geschichte der beiden Ortschaften Ober-
und Niederrotweil im Kaiserstuhl, die unter ihrem alten Namen Rothweil als
historische Einheit gesehen werden — wobei beide Orte seit 1977 Teil der Stadt
Vogtsburg im Kaiserstuhl sind. Aufgrund ihrer Lage sind Ober- und Niederrotweil
eigentlich gut abgeschirmt von den Verstädterungsprozessen, die viele Gemeinden
rings um Freiburg erleiden. Vielleicht kommt dieses Geschichtsbuch deshalb zur
rechten Zeit, da Ländlichkeit zwar noch besteht, der Arbeitsalltag sich aber längst
vom Agrarischen abgewandt hat: Auch hier gibt es Landwirtschaft vorrangig nur
noch im Nebenerwerb.
Deshalb
steht für viele Autoren — nahezu alles Einheimische, die aber spätestens zum
Studium das Dorf verlassen haben — die in Vergessenheit geratene Lebensweise
im Zentrum ihres Interesses. Sie kümmern sich mehr um den Alltag der Bauern als
um Geschlechterfolgen der Dorfherren. Und so schreiben sie, egal ob es um
Mundart, um die Bedeutung der Wirtshäuser, um die Pantaleonswallfahrt, die
Organisation des bäuerlichen Hauses oder den Weinbau geht, Ortsgeschichte als
Versuch, das alte Dorf — für das Rothweil beispielhaft steht — zu
rekonstruieren: "Mit dieser Welt allerdings haben wir heute keinen Kontakt mehr
— das ist die Erfahrung, die ein Blick und ein Ohr in die Geschichte lehrt",
schreibt Emil Galli in seinem Beitrag über Bau und Anlage eines einfachen
Hauses in Oberrotweil.
Selbstverständlich
enthält das dickleibige Buch die üblichen Kapitel über frühe Besiedlung, über
Schule und Vereine. Aber es berichtet auch erstaunlich gelassen über die Zeit
des Nationalsozialismus. Vor allem bemüht es sich ums
"Land" im Gegensatz
zur
"Stadt", zur Modernisierung des Lebens ganz allgemein (auch in Rothweil).
In
diesem Bemühen ist dieses aufwendig gestaltete Buch beispielhaft für viele
andere Dorfgeschichten nicht allein in Südbaden. Es ist anspruchsvoll, was die
Darstellung der Fakten angeht, aber es kümmert sich um den Leser ohne
eingehende historische Vorbildung. Der Heimat- und Geschichtsverein Oberrotweil
hat sich und den Autoren mit der Veröffentlichung viel Zeit gelassen, nämlich
sieben Jahre. Dabei wurde keineswegs alles, was vorher über das Dorf
geschrieben und gesagt worden ist, verworfen. Man darf es als Zeichen des
Respekts vor der Tradition des Dorfes nehmen, dass ältere Texte etwa des früheren
Ratsschreibers, aber auch anderer Bewohner übernommen wurden. Die Autoren, mit
Ausnahme des wissenschaftlichen Leiters Andreas Westen sind keine ausgewiesenen
Historiker, haben sich regelrecht eingegraben in ihre Themen, ohne sich in ihrer
Darstellung allzu sehr ins lokale Detail zu verlieren: Darin ist die
Dorfgeschichte Rothweils ebenfalls mustergültig, weil auch für
Nicht-Einheimische geschrieben. Und zu Recht lobt der Vogtsburger Bürgermeister
in seinem Grußwort die Arbeit (die ja nicht der Geschichte, sondern der
Gegenwart gilt) als "bürgerschaftlich außergewöhnliche, einmalige
Gemeinschaftsleistung". Und so liegt in der Auseinandersetzung mit dem Verlust
des Dorfes, nicht in der Nostalgie der entscheidende Gewinn dieses Buches.
Wulf
Rüskamp
(aus: Badische Zeitung, 19. 1. 2001)