Dieter Geuenichs „Geschichte der Alemannen“

 Teil 1

von Harald Noth

  1997 erschien „Geschichte der Alemannen“ von Dieter Geuenich. Der Autor hatte eine Professur in Freiburg im Breisgau inne und hat hier, mitten im (badischen) Alemannenland, schon etliche Jahre zum Thema gelehrt. Endlich einmal eine griffige und erschwingliche Gesamtdarstellung von einem kompetenten Mann, möchte man spontan sagen, wenn man das Taschenbuch in dr Hand hält. Indessen, schon die ersten Seiten seines Werks zwingen zum Stirnrunzeln. Was Dieter Geuenich in seinem Buch, in dem die Geschichte unserer Vorfahren vom 3. bis ins 8. Jahrhundert beschrieben sein soll, vertritt, kann nicht unwidersprochen bleiben. Vorfahren? Halt! Schon hier ist Geuenich anderer Meinung.Gürtelbeschlag aus dem alamannischen Gräberfeld in Weingarten/Oberschwaben

  Auf der letzten Seite seines Werkes lesen wir: „Mit der Entstehung des deutschen Reiches gingen die „Stämme“ in diesem auf, so daß es berechtigt erscheint, die Geschichte der Alemannen mit diesem Zeitpunkt als beendet anzusehen.“ Nach dem 10. Jahrhundert habe es kein nennenswertes Eigenleben der Stämme im fränkischen Reich mehr gegeben, das sich zu „Reich der Deutschen“ entwickelt habe. Aus. Vorbei. Und nicht nur das: Man müsse auch den Versuchen kritisch gegenüberstehen, „die Geschichte der Alemannen des 3. bis 8. Jahrhunderts als die ‘Geschichte eines lebendigen Volkes’ zu verlängern und das alemannische Bauernhaus, die alemannische Fasnet, den alemannischen Dialekt oder gar die alemannische Mentalität vom völkerwanderungszeitlichen ‘Stamm’ der ‘hochgemuten Alemannen’ (Felix Dahn) herzuleiten.“[i] (S. 118).

  Auch die heutigen, bewußten Alemannischsprecher bekommen ihr Fett ab: Geuenich meint, sie als Anhänger eines falschen Bildes von einer ungebrochenen Stammeskontinuität überführen zu können: „Wer am Oberrhein heutzutage gemäß dem dort populären Mundart-Slogan ‘alemannisch schwätzt’, statt sich der hochdeutschen Sprache zu bedienen, glaubt infolgedessen gemeinhin, er bewahre damit die Mundart des alten, aus der elbgermanischen Heimat über den römischen Limes nach Süddeutschland eingewanderten Alemannenstammes.“ (S. 14)

Was haben wir mit den alten Alamannen zu tun?

  Ein einfältiger Glauben, daß wir noch die gleichen seien wie vor tausend Jahren, mag es hie und da geben, daß aber Geuenich diese selten anzutreffende Sicht ernst nimmt und sich daran abarbeitet, ist doch verwunderlich. Jedermann weiß und sieht, daß die Alemannen in den letzten tausend Jahren selten eine politische Einheit hatten, daß das gemeinsame Stammesbewußtsein im allgemeinen verloren gegangen ist und erst in jüngerer Zeit und auch da nur von einer Minderheit wiedergefunden wurde. Auch in Südbaden, wo man sich am ehesten alemannisch fühlt, gibt es hier wenig Illussionen. 

  Daß es neben Bruch auch Kontinuität gibt, ist auf der anderen Seite klar. Die Menschen, die im vorigen Jahrtausend im Wu d Alamanne zwische 400 un 700 gsiidlet hänalamannischen Siedlungsgebiet lebten, sind nicht in nennenswertem Maß abgewandert, und auch die älteren Wanderungen kamen meist nicht von außen, sondern haben sich innerhalb der Alamannia abgespielt, so z. B. hat es nach dem Dreißigjährigen Krieg Wanderungen von der Schweiz oder aus Schwaben an den Oberrhein gegeben. Beim Hauptteil der Bevölkerung im Südwesten handelt es sich auch heute noch um Nachfahren der Alamannen des 1. Jahrtausends. Weiteren Bestand haben auch kulturelle Gemeinsamkeiten, gemeinsame Grundzüge der Sprache[ii], grenzüberschreitende, wenn auch nicht immer im ganzen Gebiet verbreitete Bräuche, Ähnlichkeiten in der Mentalität. 

  Auf die kulturellen Gemeinsamkeiten wird in der Schule und in den Medien nicht hingewiesen, sie werden aber als solche erfahren, ein Gefühl besonderer Verwandschaft wird erlebt, sobald der einzelne solche Gemeinsamkeiten bemerkt. Daß diese Gemeinsamkeiten sich im Laufe der Jahrhunderte bewegt, sich entwickelt haben - oft zusammen, oft auseinander - daran zweifelt kein denkender Mensch zwischen Lech und Vogesen, zwischen den Alpen und der alemannisch-fränkischen Dialektgrenze, die nördlich von Weißenburg und Heidenheim verläuft. 

Was haben wir mit den Keltoromanen zu tun?

  Die Methode von Geuenich ist: eine Behauptung über die Meinung heutiger Alemannen aufzustellen - die meisten Leser werden sie glauben - und sich daran abarbeiten. Bekanntlich war das ‘Dekumatland’, ein großer Teil des heutigen Baden-Württemberg, von römischem Militär und ihrem zivilen Gefolge, keltoromanischen Siedlern, bewohnt. Um 260 nach Christus begannen die Alamannen, in das Dekumatland einzudringen, die römischen Truppen zogen ab. Die (heute kaum mehr umstrittene) Frage ist, was mit den noch verbliebenen Siedern geschah, als die Alamannen das Land eingenommen hatten. 

  Geuenich behauptet im Schlußsatz seiner Geschichte, den alemannischen Dialekt usw. auf den völkerwanderungszeitlichen Stamm der Alemannen zurückzuführen, bedeute „die Anwesenheit der keltischen und romanischen Vorbevölkerung am Hoch- und Oberrhein“ zu ignorieren. 

Damit geht er jedoch fehl, niemand tut das. Das war nicht einmal im Dritten Reich Lehrmeinung. Damals versuchte man die Alemannen mit ihren nichtgermanischen Vorfahren einzuschüchtern: Ihr seid gar keine reinen Angehörigen der nordischen Rasse, paßt nur auf, daß euch der alpine und dinarische Blutanteil nicht durchgeht! Daß bei euch der nordische Charakter überwiegt, müßt ihr erst durch Mitmarschieren und Parolenschreien beweisen![iii] Daß die verbliebene voralamannische Bevölkerung von den Alamannen integriert wurde und mit ihnen verschmolz, ist eine Binsenweißheit; daß sie auch die alamannische Kultur beeinflußte, ist vielfach beschrieben. Vermutlich waren die Walchen oder Walen, wie die Vorbevölkerung im namenskundlichen Befund heißt, wenn auch wohl zunächst nicht frei, so doch von den Eroberern geschätzt wegen ihrer Beherrschung römischer Kulturtechniken (Handwerk, Gartenbau). In der Schweiz, deren alamannische Besiedlung im 6. Jahrhundert begann, scheinen romanische Bevölkerungsreste punktuell sitzen geblieben zu sein und sich erst im Mittelalter assimiliert zu haben[iv]

  Ein solcher Verschmelzungsvorgang ist übrigens jedem heutigen Menschen vertraut. Nehmen wir einmal das Ruhrgebiet als Beispiel. Die zeitliche Abfolge ist dort andersrum: erst waren die Nachfahren der Franken da, Anfang unseres Jahrhunderts kamen polnische Arbeitsimmigranten, später welche aus aller Herren Länder, in Zeiten industrieller Blüte auch immer Menschen aus allen Ecken des deutschen Sprachgebiets. Heute frägt niemand danach, ob einer vielleicht kein Einheimischer ist, nur weil er Wischnewski, Gorzelancyk oder Gauthier heißt, und in hundert Jahren wird auch der Name Yürütücü im Ruhrgebiet ganz unauffällig klingen. Daß diese ursprünglich nichtfränkischen Einwanderer einen kulturellen Einfluß hinterlassen haben und noch hinterlassen werden, ist unzweifelhaft. Über solche Verschmelzungsvorgänge macht sich niemand Illussionen, ob sie sich nun im ersten Jahrtausend oder im 20. Jahrhundert abspielen. Die Sprachwissenschaft aber scheut sich nicht, den Dialekt im Ruhrpott immer noch als fränkisch zu bezeichnen, auch wenn ihn jetzt auch Einwanderer und deren Nachkommen sprechen. Die Bayern dürfen sich unbeschwert Bayern, die Sachsen Sachsen nennen. Auch wir Alemannen möchten uns Alemannen nennen, auch wenn zu unseren Vorfahren Keltoromanen gehören. Zwar haben wir keine vergleichbare staatlich-politische Kontinuität vorzuweisen wie Bayern und Sachsen, aber das ist nicht ausschlaggebend: Wer sich zusammengehörig fühlt, darf sich auch einen verbindenden Namen geben. Da braucht man keinen Staat zu haben, so haben etwa auch die Kurden keinen, die Oromo (in Äthiopien und Somalia), die Aserbaidschaner (in der Türkei und im Iran), die Basken (in Spanien und Frankreich) und viele Dutzend anderer Volksgruppen. Jahrhundertelang hatten auch die Juden keinen. Das Selbstbewußtsein als Volksgruppe o. äh. muß nicht bruchlos sein, so hatten die Kurden keineswegs immer ein Volksbewußtsein; die Roma haben es weitgehend heute noch nicht, und doch greift niemand die kleine Minderheit bewußter Roma an, die ihre Leute als Volk begreifen. So streitet auch schon lange niemand mehr den Amerikanern der USA ab, ein Volk zu sein, obwohl sie erst vor einer geschichtlich sehr kurzen Zeit zusammengekommen sind und eine sehr heterogene Zusammensetzung haben.

Haben die Alamannen etwas mit den Sueben zu tun?

  Nach dem Gesagten ist es eigentlich für ein Volksgruppenbewußtsein nicht entscheident, ob die Gruppe sich vor Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden konstituiert hat. In dieser Hinsicht ist auch die Frage, ob die Alamannen schon vor oder erst nach 260 zu einem Stamm wurden, belanglos. Für Geuenich aber ist das von großer Wichtigkeit. Er unterstellt wieder eine Position, die heute kaum noch ein Autor vertritt: Nach dieser Position hätten die Alamannen sich schon „im Innern Germaniens“ konstituiert und hätten die Landnahme geschlossen, planvoll, quasi generalstabsmäßig durchgeführt (S. 12ff). So sah man es, so wollte man es sehen im Dritten Reich. Aber heute? Wer die neuere Literatur ein bißchen verfolgt, wird darauf gestoßen, daß von einer Planmäßigkeit keine Rede sein kann.

  Geuenich behauptet nun auch, daß nicht auszumachen sei, daß der Kern der Personenverbände, die einwanderten, Sueben oder Semnonen seien.

  Wer sind die Sueben und die Semnonen? Der römische Geschichtsschreiber Tacitus hat sie um 98 nach Christus in seiner ‘Germania’ beschrieben. Die Sueben bilden danach keinen einheitlichen Stamm, „sie haben nämlich einen ziemlich großen Teil Germaniens inne, in dem noch heute selbständige Einzelstämme mit verschiedenen Namen wohnen, obwohl man sie insgesamt Sueben nennt.“ Tacitus weiter: „Als die ältesten und edelsten Sueben bezeichnen sich die Semnonen.“ Offenbar waren diese sehr bevölkerungsreich: „In hundert Gauen wohnen sie, und die große, einheitliche Masse trägt dazu bei, daß sie sich für den Hauptstamm der Sueben halten.“ Sie haben einen Kultort, an den zu bestimmten Zeiten „Abordnungen aller Teilstämme aus gleichem Blut“ kommen.

  Das Siedlungsgebiet der Semnonen war zur Zeit des Tacitus an der mittleren Elbe, im Havelgebiet, bis an die Oder reichend. Um sie herum gruppierten sich die Teilstämme, die bekanntesten sind die Langobarden (nordwestlich der Semnonen), die Hermunduren, Markomannen, Quaden im Süden, die Lugier (die späteren Vandalen) im Osten und kleinere Gruppen an der Nordseeküste.[v] Freilich wird ein Teil der genannten Stämme nicht immer oder in gleicher Weise zu den Sueben gezählt. „Man muß zwischen ursprünglich suebischen, ausgegliederten, nachträglich suebisierten und sich selbst zu den Sueben zuordnenden Stämmen unterscheiden (...)“[vi] „Unbestreitbar blutsverwandt“ mit den Semnonen sind die Markomannen, die Quaden und die Sueben Ariovists.[vii]

  Geuenich nun weist darauf hin, daß Alamannen in den lateinischen Quellen erst ab dem 6. Jahrhundert Sueben genannt werden. „Die daraus abgeleitete Vermutung, bei den im 3. Jahrhundert erstmals genannten Alemannen handle es sich um Sueben, etwa um den suebischen Stamm der Semnonen, die lediglich einen anderen Namen angenommen hätten, erscheint jedoch nicht ohne weiteres plausibel. Warum sollte der alte, ruhmvolle Semnonen-Name von den Alemannen aufgegeben worden sein? Gerade ein solch traditionsbeladener Stammesname (...) wäre doch - zumindest neben dem neuen Namen - weitergeführt worden.“ (S. 14).

  Wenn etwas nicht plausibel ist, dann ist es dieser Schluß von Geuenich. Der Name der Semnonen war ruhmreich zur Zeit von Tacitus, also über 150 Jahre vor der Überschreitung des Limes durch Alamannen. Und selbst als Tacitus die „Germania“ schrieb, waren nicht alle seiner Informationen brandneu und unanfechtbar. Ein Ruhm braucht jedenfalls keine 150 Jahre, um zu verfliegen, wenn sein Träger Niederlagen, sozialen Krisen oder ähnliches erlebt. Daß die die Alamannen konstituierenden Stammesteile sich nach Süden bewegten und dort dauerhaft niederließen, deutet darauf hin, daß ihre Lebensbedingungen im Norden wenig befriedigend waren. Der dauerhafte Auszug großer Menschenmassen wird nicht allein mit Raublust zu erklären sein (auf die viele alamannische Einfälle ins Römische Reich hindeuten). Den einstmals ruhmreichen Namen Semnonen hören wir das letzte Mal 179/180 n. Chr.[viii] und ein allerletztes Mal in Jahr 260 - davon weiter unten.

  Ob die Alamannen in den ersten Jahrhunderten nach der Landnahme sich jemals selbst als Alamannen bezeichnet haben, ist nicht sicher. Es existieren schließlich keine eigenen Schriftquellen dieser Zeit. Aus dem selben Grund kann auch niemand sicher sagen, der Name Sueben wäre zwischen drittem und sechstem Jahrhundert bei den Alamannen nicht in Gebrauch gewesen. Daß die Römer die Alamannen nicht Sueben nannten, will nichts heißen. Denn der Name Alamannen ist präziser. Er läßt offen (legt sogar nahe?), daß zu den nach Süden in Bewegung geratenen Personenverbänden auch andere als Sueben gehörten und er ermöglicht es, die im Südwesten angesiedelten Gruppen von den noch im Norden und Osten verbliebenen Sueben zu unterscheiden. Ist aber der Name Alamanni in den lateinischen Quellen einmal etabliert, darf man nicht mehr erwarten, daß er durch eine vielleicht in einem kleineren oder größeren Teil oder auch in mehreren Teilen Alamanniens lebendig gebliebene Bezeichnung Sueben ersetzt wird. So können sich die Ungarn lange Magjaren nennen, die Außenwelt bleibt bei der einmal etablierten Bezeichnung Ungarn.

  Aufschlußreich in dieser Hinsicht könnte Gregor von Tours sein. Dieser fränkische Geschichtsschreiber berichtet im 6. Jahrhundert über den Einfall von Sueben in Gallien und Spanien um 406. Er will dem Leser des Westens begreiflich machen, was Sueben sind - und schreibt: Suebi, id est Alamanni - Sueben, das heißt Alamannen[ix]. Dann fährt er nicht etwa fort, diese Sueben Sueben zu nennen, sondern bleibt bei Alamannen, nennt diese Sueben permanent Alamannen - was möglicherweise nicht korrekt ist. Es handelt sich hier nach Meinung verschiedener Forscher um eine suebische Gruppe, vermutlich Quaden, die östlich von den Alamannen wohnhaft gewesen war.

  Im 6. Jahrundert beginnt also die Außenwelt, die Alamannen auch als Sueben anzusehen und zu bezeichnen. Man könnte nun - und Geuenich tut es - Hagen Keller[x] folgen und diesen Wandel der Vereinigung der Alamannen mit einer suebischen Volkgruppe zuschreiben. Zwischen 460 und 480 scheint es nämlich zu einem massiven Zuzug von Donausueben nach Alamannien gekommen zu sein - sie hatten bisher an der mittleren Donau (Wien-Budapest-Slowakei) gesiedelt, wurden dort aber von den Goten verdrängt[xi]. Interessanterweise verteilte sich diese Zuwanderung recht gleichmäßig auf das ganze damalige alamannische Gebiet, also bis an den Hoch-, Ober- und Mittelrhein, wo donauländische Spuren gesichert sind[xii]. Dieter Quast deutet diese Verteilung so: „Sicher lag es (...) im Interesse der alamannischen Führungsschicht, den Zuwanderern keine „Inseln“ zuzuweisen, sondern sie möglichst schnell in den Stammesverband zu integrieren. Insgesamt könnte man hinter der gleichmäßigen Verteilung der donauländischen Funde und damit der Zuwanderer im gesamten alamannischen Raum durchaus eine zentrale Steuerung vermuten.“ Daß diese alamannische Führungsschicht sich von suebischen Zuwanderern, die geschlagen, geschwächt sind und offenbar systematisch verteilt, zerstreut werden, einen fremden Namen aufdrücken läßt, ist schwer vorstellbar. Vielmehr wird der Name Sueben als Selbstbezeichnung von Bevölkerungsgruppen in Alamannien durchaus überliefert und lebendig geblieben sein. Dafür gibt es sogar einen Beleg: Der Schreiber Ausonius brachte vom Alamannenfeldzug Kaiser Valentians I. anno 368 eine Sklavin namens Bissula als Beute mit, die er als Suebin bezeichnet, welche „jenseits des eiskalten Rheines durch Abstammung und Wohnsitz heimisch“ war und „die Quellen der Donau kennt.“[xiii] Die Alamannen nennt der aus Bordeaux stammende Gelehrte grundsätzlich Sueben. Er wird es von seiner Sklavin und Geliebten so erklärt bekommen haben[xiv]. Daß der Name Sueben um 368 jederzeit überall in Alamannien vorgeherrscht habe, beweise ich mit dem Gesagten nicht. Jedoch wiederspreche ich Geuenich darin, daß vor der Verschmelzung mit den Donausueben die Alamannen den Namen Sueben nicht zumindest teilweise geführt und benutzt hätten. Daß andererseits die (Selbst-)benennung Sueben bei den Alamannen oder Teilen von ihnen durch die Zuwanderung der Donausueben neue Nahrung und Auftrieb bekommen haben könnte - wer möchte das bestreiten? Die Außenwelt wird durch die suebische Zuwanderung augenfällig daraufgestoßen sein. 

  Daß Geuenich eine wie auch immer geartete Kontinuität des Namens Sueben bei den Alamannen bestreitet, dient offenbar und überflüssigerweise dem Ziel, zu zeigen, daß die Alemannen 260 nach Christus noch kein einheitlicher Stamm unter einheitlicher Führung waren. Schließlich aber kann Geuenich nicht umhin, zuzugeben, was alle wissen und woraus man den suebischen Charakter des Kerns der Einwanderer des weiteren ableitet: Es „kann festgehalten werden, daß die Bezüge im Fundgut der frühen südwestdeutschen Gräber und Siedlungen zu dem aus den mitteldeutschen Gebieten so deutlich hervortreten, daß die Annahme gerechtfertigt erscheint, der überwiegende Teil der neuen Bevölkerung, die sich von 3. Jahrhundert ab im Gebiet des heutigen Baden-Württemberg archäologisch nachweisen läßt, habe mit dem als „elbgermanisch“ bezeichneten Kulturkreis in Beziehung gestanden. Die Folgerung, große Teile der in das Gebiet östlich des Oberrheins eingedrungenen Menschen seien aus Mitteldeutschland gekommen, ist demnach gut begründet.“ (S. 17) Der als elbgermanisch bezeichnete Kulturkreis - Geuenich weigert sich, es explizit zu sagen - ist kein anderer als der suebische.

Die Juthungen - keine Semnonen und Alamannen?

   Der Leser der „Geschichte der Alemannen“ glaubt nun, das Thema mit den Semnonen, den Sueben und ihrem angeblichen Nicht-Zusammenhang zu den Alamannen sei für Geuenich abgehakt. Doch einige Kapitel später behandelt er die Juthungen. Wir erfahren, daß ihr Name schon im 19. Jahrhundert von Karl Müllenhoff und anderen im Sinne von „Abkömmlinge (des Gottes) der Semnonen“ oder „echte Semnonen“ interpretiert wurde. Im Jahre 1992 nun wurde in Augsburg ein Altarstein gefunden, auf dem es heißt: ob barbaros gentis Semnonum sive Iouthungorum. Die „Barbaren des Stammes der Semnonen oder Juthungen“ sind, dieser Inschrift aus dem Jahre 260 (!) zufolge, nach ihrem Rückzug von einem Einfall in Italien in der Nähe von Augsburg besiegt worden; „viele Tausend gefangener Italer“ seien aus ihren Händen befreit worden. 

  Geuenich führt nun auch an, daß Ammianus Marcellinus[xv] die Juthungen als alamannischen (Teil-)Stamm bezeichnet. Die Juthungen sind demnach zugleich Semnonen und Alamannen. Geuenich gibt zu: Hier „könnte man die in der Forschung schon immer gehegte Überzeugung, die Alemannen seien Sueben, durch diese Inschrift bestätigt sehen.“ (S. 38) Wie wird er nun seine Theorie, die diesem fast zwingenden Schluß entgegengesetzt ist, wieder zum Stimmen bringen?

  Er führt die Möglichkeit ins Spiel, daß ‘Juthungen oder Semnonen’ auch als ‘entweder Juthungen oder Semnonen’ gemeint sein könnte. Das ist jedoch unsinnig: Sollten die Römer nicht gewußt haben, wen sie da besiegt haben? Sie haben den Siegesstein ja nicht Jahrzehnte später und hunderte von Meilen entfernt aufgestellt, sondern unmittelbar am Kampfort, noch im Jahr ihres Erfolgs. Daß die Juthungen sagen, wer sie sind, steht außer Zweifel.

Wer die Juthungen sind, wissen wir aus einem Bericht des zeitgenössischen griechischen Historikers Dexippos. Im Jahr 270 suchten die Juthungen nämlich erneut Italien heim, wurden aber von Kaiser Aurelian geschlagen. Daraufhin schickten sie eine Gesandschaft zu Aurelianus, die einen Vertrag aushandeln sollte. Offenbar wollten die Besiegten dem Kaiser ein „Kampfbündnis“ vorschlagen und, so sagt ihr Sprecher, „daß wir weiterhin bekommen, was uns (früher) von euch an Gaben von ungeprägtem und geprägtem Gold sowie von Silber zur Bekräftigung der Freundschaft zukam. Lehnt ihr aber ab, werden wir uns gegen euch als unsere Feinde wehren und euch nach Kräften bekämpfen.“ Die Juthungen, die nach den Angaben ihrer Delegation „beinahe ganz Italien erobert“ hatten, stellen sich so dar: „Mit 40 000 Reitern sind wir ausgezogen, und das sind keine zusammengewürfelten Truppen und keine Schwächlinge, sondern ausschließlich Juthungen, deren Fähigkeiten im Reiterkampf wohlbekannt sind; und Fußvolk stellen wir ins Feld, das doppelt so stark ist wie die Reiterei, und auch bei ihm beflecken wir die Unüberwindlichkeit des eigenen Heeres nicht durch Zumischung von Fremden.“ In dieser Bericht von Dexippos wird nicht jedes Wort für bare Münze genommen werden dürfen, daß aber die Juthungen stolz waren und sagten, wer sie sind, scheint außer Zweifel zu sein.

  Einmal entschlossen, die Alamannen nicht in urspünglichem Zusammenhang mit Sueben oder gar Semnonen sehen zu wollen, deutet Geuenich die Aussage des Ammian so, daß die Juthungen wegen ihrer langen Nachbarschaft und Kampfgemeinschaft mit den Alamannen für Alamannen gehalten oder zu ihnen gezählt wurden. Um 430 sind die Juthungen zum letzten mal erwähnt. „Danach“, schreibt der Verfasser, „ist von diesem Volksstamm keine Rede mehr; seine Angehörigen dürften fortan mit dem Sammelnamen ‘Alemannen’ bezeichnet worden sein.“ 

  Die Juthungen sind der einzige bekannte Teil der Alamannen, dessen Herkunft homogen und klar identifiziert zu sein scheint. Lothar Bekker, der den Augsburger Siegesaltar untersuchte, meint nicht nur, daß die Juthungen Semnonen seien, sondern er geht so weit, zu sagen, daß damit die Alamannen keine Semnonen sein könnten. Nach seiner Vorstellung haben sich die Semnonen im dritten Jahrhundert als ganzer Stamm ins Vorland der Donau bei Regensburg bewegt[xvi] - eine Vermutung, die durch nichts bewiesen ist. Die Alamannen, so scheint es ihm, seien vor allem Hermunduren und Chatten. Indessen, so ist einzuwerfen, schließt eine Wanderung von Semnonen an die Donau nicht aus, daß ein anderer Teil des Stammes an der Landnahme im Dekumatland, dem späteren Alamannien, beteiligt ist; ein dritter Teil könnte noch im ursprünglichen Wohngebiet verblieben sein.


[i] Das von Geuenich hier verwendete Zitat stammt aus dem Jahre 1902.

[ii] In der Sprachwissenschaft gibt es über diese geimeinsamen Züge keinen Zweifel, obwohl im Mittelpunkt des Forschungsinteresse immer die Unterschiede von Region zu Region standen. Eine gründliche Darstellung der Gemeinsamkeiten steht noch aus.

[iii] Mehr darüber in: „Alemannentum“ als nationalsozialistischer Etikettenschwindel. in: Harald Noth: Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung. Freiburg i.B. 1993

[iv] Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Band I. Berlin 1973. S. 150

[v] Nach: Tacitus. Germania. Übertragen und erläutert von Arno Mauersberger. Leipzig.

[vi] Griechische und Lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas. Joachim Herrmann (Hg.). Zweiter Teil. Tacitus. Germania. Berlin 1990. Kommentar S. 230

[vii] R. Much in: Sueben. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Vierter Band. Straßburg 1918-19.

[viii] Lothar Bakker: Raetien unter Postumus - Das Siegesdenkmal einer Juthungenschlacht im Jahre 260 n. Chr. aus Augsburg. in: Germania. Jahrgang 71 (1993). S. 375

[ix] „Diesen (den Wandalen) folgten die Sueben, das heißt die Alamannen, und nahmen Gallitia (Landschaft im Nordwesten der iberischen Halbinsel) ein.“ So Schreibt Gregor von Tours, nach:

Quellen zur Geschichte der Alamannen. Sigmaringen. Heft II, 108

[x] Hagen Keller: Alamannen und Sueben nach den Schriftquellen des 3. bis 7. Jahrhunderts. in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989). S. 90ff, S.106f.

[xi] Dieter Quast: Vom Einzelgrab zum Friedhof. Beginn der Reihengräbersitte im 5. Jh. in: Die Alamannen. Herausgegeben vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg. Stuttgart 1997. S. 183

[xii] Quast, wie oben, Karte S. 180

[xiii] Quellen zur Geschichte der Alamannen. Heft VI, S. 97

[xiv] Hagen Keller, wie oben, S. 94, sucht die Beweiskraft dieser Quelle abzuschwächen mit der Bemerkung, Ausonius habe den Namen Sueben aus Reimgünden verwendet.

[xv] Der Bericht von Ammian über einen Einfall der Juthungen in Rätien betrifft die Zeit um 355. Er schrieb sein Werk mit diesem Bericht 392/393. Quellen I, S. 59

 

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