Mußte man aus dem Mosaik immer nur die Steine einer Farbe auswählen?
Gab nicht erst das ganze Bild einen Sinn?
Ulla Hahn in "Unscharfe Bilder"

 

Der Fall Walter Jens

In den letzten Novembertagen 2003 stand als Kleinstmeldung in der Badischen Zeitung, dass auch der bekannte Literaturhistoriker Walter Jens seit 1942 NSDAP-Mitglied war. Dies brachte das neue "Internationale Germanistenlexikon 1800 - 1950" an den Tag, in dem neben Jens noch weitere 100 Parteimitglieder aufgeführt sind. Jens ist gerade im Breisgau noch in frischester Erinnerung: Der emeritierte Rhetorik-Professor  hatte am 15. 9. 2002 eine laut BZ-online  "vielbejubelte Rede" auf dem Freiburger "Aktionstag gegen Fremdenhass und Rassenwahn" gehalten. Wir erlebten gerade die Endphase des rot-grünen Wahlkampfs. Den Organisatoren gelang es, an diesem Tag 15.000 Menschen gegen eine geplante NPD-Demonstration zu mobilisieren. Auf Seiten der NPD traten - einschließlich eventueller V-Leute - noch 108 Menschen an, etliche davon barfuß, da die Polizei das Tragen von Springerstiefeln unterband. Walter Jens vergaß nicht, in seine Rede gegen die Ausgrenzung von Ausländern Seitenhiebe auf Franz Josef Strauß, "den flüchtigen Filbinger", Edmund Stoiber und Roland Koch einzubetten und zu sagen: "Es war Hermann Göring - bitte zuhören, Herr Dr. Kohl -, der (...) den Vorschlag machte, in der Reichsbahn eigene Judenabteile einzurichten, um die Ansteckung der Arier zu verhindern." Jens machte seinen Zuhörern hier klar, dass Helmut Kohl Belehrungen über die NS-Zeit nicht liebt, ihrer aber wegen der heutigen Ausländerpolitik bedarf - und er erteilte sie ihm.

Zur Erinnerung: Die Rede von Jens fand eine Woche vor der Bundestagswahl statt, der amtierende Kanzler hieß Gerhard Schröder, sein Innenminister Otto Schily. Die Ausländerpolitik dieser von Jens nicht erwähnten Parteiführer und ihrer Regierung unterschied und unterscheidet sich nur in Nuancen von der der Konservativen. Jens ist auf einem Auge offenkundig blind.

Dieser Walter Jens, ehemaliger Vorsitzender des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland und jetziger Ehrenvorsitzender der Akademie der Künste in Berlin, gibt nun an, sich an seine NSDAP-Mitgliedschaft nicht zu erinnern, sie müsse durch eine Anmeldung durch Dritte entstanden sein, denkbar sei aber auch, dass er einmal auf einer Großveranstaltung einem "Generalwisch" unterschrieben habe. In der Süddeutschen Zeitung sagt Jens: "So nachdrücklich ich immer betont habe, dass ich in der Hitlerjugend war, so nachdrücklich habe ich immer gesagt: Ich war nicht in der Partei." Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat es anders in Erinnerung, er sagte laut "Focus" über Jens: "Mir hat er in 20 Jahren Freundschaft weder von einer Mitgliedschaft in der HJ noch in der Partei erzählt." (dpa, 01.12.2003). So erging es auch dem restlichen Publikum des rigorosen Moralisten und Antifaschisten. Reich-Ranicki hat also von der angeblich mit Nachdruck bekannten Mitgliedschaft Walters in der Hitlerjugend nichts mitbekommen - nicht richtig hingehört?

Nach einem Gutachten aus dem Münchner Institut für Zeitgeschichte war eine Mitgliedschaft in der NSDAP nicht ohne persönliche Anmeldung durch den Kandidaten möglich. Auch der Vermerk in der NSDAP-Kartei über den Umzug von Jens 1943 von Hamburg nach Freiburg kann, so der Historiker Michael Buddrus vom Münchner Institut, nur durch eine persönliche Meldung des Studenten entstanden sein. Dieses Gutachten fechtet Jens an, er forderte von den Herausgebern des Germanistenlexikons ein zweites und ein drittes - aber vergeblich, wie auch sein Einwand, dass er gar kein Germanist sei, ihn nicht vor der Aufnahme ins Lexikon schützte.

Kann wenigstens aus Freiburger Sicht angenommen werden, Jens habe von seiner Mitgliedschaft nichts gewusst? Das Buch "Das Freiburger Münster. Bilder und Texte" riecht noch druckfrisch, hierfür hat der Herausgeber auch einen Text von Jens angefordert und auf der letzten Seite platziert, vielleicht, weil er ihn für den wichtigsten hielt. In diesem Band, der auch ein Vorwort von Dieter Salomon und Beiträge von Gernot Erler und Rolf Böhme - mithin der rot-grünen Prominenz der Münsterstadt - enthält, schreibt Walter Jens:

"Ein heiler Frühlingstag in unheiliger Zeit. Die Nationalsozialisten regieren, Menschen sterben, manche Kirchenoberen paktieren mit den neuen Herren, die Szenen in den Konzentrationslagern gewinnen mit Hilfe einer eingespielten Mundpropaganda an Deutlichkeit. Freiburg im Mai 1943, das waren für mich die Debatten im 'Rheinischen Hof', die Vorlesungen bei Heidegger, vor allem aber das Münster und die abendliche Andacht."

Wer nicht auf Freiburgs Geschichte spezialisiert ist, also 99% der Leser, entnimmt der halben Schreibmaschinenseite von Jens eine Anklage gegen den Faschismus und seine Paktierer. Vielleicht kennt der Laie gerade noch Heidegger, der schon vor dem Dritten Reich der bekannteste zeitgenössische deutsche Philosoph war und internationale Anerkennung genoss. Er war zwar zunächst überzeugter Nazi - als Jens ihn aber in Freiburg kennen lernte, schon deutlich ernüchtert. Bei diesem Philosophen mit Weltgeltung gelesen zu haben ist keine Schande. Der historische Laie liest dann weiter, dass Jens "vor allem" die abendliche Andacht besuchte; dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn Jens versucht, einen Antifaschisten als Zeugen aus der Zukunft aufzubauen:

"("Hast du damals auch die Mädchen gesehen", fragte mich Jahrzehnte später mein Freund Heinrich Böll, "die der Mutter Gottes eine Kußhand zuwarfen?")"

Doch was tat Walter Jens vor oder nach der Andacht im 50 Meter vom Münster entfernten Rheinischen Hof? Über was debattierte er dort in einer Zeit, in der auch in Freiburg die "Szenen in den Konzentrationslagern" an Deutlichkeit gewannen? Wir erfahren es im Münsterbüchlein nicht. Der hiesige Wirtschafts- und Sozialhistoriker Hugo Ott wies am 13. 12. 2003 in der Badischen Zeitung darauf hin, dass dort "die NS-Kameradschaft 'Friedrich Ludwig Jan' ihr Studentenquartier" hatte. 

"13 solcher Kameradschaften gab es in Freiburg. Sie waren die universitären Elitetruppen der Bewegung. Der Doktorand Walter Jens wurde Mitglied der Kameradschaft 'Jan', einer zum Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund zählenden Gliederung, seitdem er zu Beginn des Sommersemesters 1943 von Hamburg nach Freiburg gewechselt war." Im Wintersemester 44/45 gab Jens seine Dissertation ab, die, so Ott, "freilich ohne den eigentlich erforderlichen Lebenslauf überliefert ist."

Die Frage erhebt sich, warum der Lebenslauf "nicht überliefert" ist und wie es dazu kam.

Jens hat übrigens seine Wahlrede am 15. 9. 2002 in Freiburg und auch 2003 seine Seite im Münster-Büchlein noch mit der Erwähnung des Freiburger antifaschistischen Dichters Reinhold Schneider geschmückt. Diesem dürfte er in den Jahren 1943 bis 1945 aus dem Weg gegangen sein, sonst wäre er dort vielleicht Filbinger begegnet, der bei seinen Heimataufenthalten im Freiburger Kreis um Reinhold Schneider verkehrte. Zwei der Büchlein Reinhold Schneiders hatte Filbinger an der Front in seinem Marschgepäck. Der Fall Hans Filbingers und seiner selbstgerechten Richter wurde von mir in einem anderen Kapitel ausführlich dargestellt.

Zweierlei Maß

Am 27. November 1994 hatte Walter Jens im Historischen Kaufhaus in Freiburg eine Gedenkrede zum 50. Jahrestag des Fliegerangriffs gehalten - stünde nicht das Münster noch, hätte Jens aus dem Fenster des dunkelroten Kaufhauses den Rheinischen Hof gesehen. Er ist nach dem Krieg wieder aufgebaut worden, heute beherbergt das hellbraune Gebäude allerdings das Heiliggeist-Stüble. Ott schreibt in der BZ:

"In dieser Rede hat Walter Jens sich zum Ankläger und Richter zugleich über den Freiburger Erzbischof Conrad Gröber aufgeschwungen - in sublimer Rhetorik. In einem fiktiven Gespräch, das von der Besatzung eines Bombers geführt wurde, bürdete er die Verantwortung für diesen Angriff dem Erzbischof auf, weil dieser einem extremen Antijudaismus angehangen habe. Und deshalb die göttliche Rache herausgefordert habe. Indes: nach heutigem Kenntnisstand passt hier einiges nicht mehr zusammen. Das Paradoxon ist noch widersinniger geworden."

Wir begegnen hier erneut der Taktik "Angriff ist die beste Verteidigung", die sich offenbar durch etliche Polemiken von Jens zieht. Andere beschimpfen und beschuldigen, über sich selbst schweigen. Dabei kommt ihm, der neun Jahre jünger als Filbinger ist, die Gnade der späten Geburt zugute. Der Student Jens war 1942, als seine Mitgliedschaft begann, 19 Jahre jung - zu jung, um vom Regime Aufgaben wie ein Richteramt bei der Marine, ein Lehramt an der Uni oder das Kommando über einen Truppenteil übertragen zu bekommen. Überhaupt ersparte ihm sein Asthma den Kriegsdienst. Und als die Royal Air Force den Rheinischen Hof und einen Großteil der Innenstadt zerbombte, war er in Sicherheit - er lag er in der Freiburger Uniklinik.

Der Fall Jens zeigt, wie sehr es menschelt auf beiden Seiten der Barrikaden. Die Fälle Filbinger und Jens gleichen sich in manchen Details wie ein Ei dem anderen. Die Krux von Filbinger 1978 war unter anderem, dass er keine Begabung zum Rhetoriker hatte und das falsche Parteibuch besaß. Wird er wenigstens jetzt auf mehr Nachdenklichkeit und mildere Urteile seiner antifaschistischen Widersacher hoffen dürfen? Der Antifaschist und Initiator der Wehrmachtsausstellung, Jan Philipp Reemtsma,  sagte zum Fall Jens im Bayrischen Rundfunk: 

"Das Bedrückende ist, wenn jemand nicht sagen kann, 'Herrgott noch mal, ich war damals 18, 19 oder 21 Jahre alt ... und ich war ein Dummkopf, aber jetzt nicht mehr'".

 Reemtsma gesteht seinem politischen Freund also zu, damals ein Dummerle gewesen zu sein - nur blöd, dass der Walter das nicht zugibt. Auch Adolf Muschg - Schriftsteller und Nachfolger von Jens als Präsident der Akademie der Künste - springt in die Bresche:

"Ich finde das eine derart pubertäre und infantile Art, jetzt Leuten wie Walter Jens, Peter Wapnewski oder Walter Höllerer nachzuweisen, dass sie als junge Leute verführbar waren. Es ist so saudumm - mit Verlaub."

Bei Filbinger legt man bislang noch strengere Maßstäbe an: Die SA-Mitgliedschaft des 19 Jahre alten Studenten Hans und seine Fleißarbeit als 21-Jähriger über das "Nationalsozialistische Strafrecht" sieht man als Ausweis tiefwurzelnder nazistischer Gesinnung an, die er dann bei seiner Tätigkeit als Marinerichter angeblich in Handeln umgesetzt hat. Zwar wurde inzwischen auch von Jens eine anscheinend kompromittierende Rede über "entartete Literatur" bekannt, die er 1942 in Hamburg gehalten hat, doch Jens braucht nicht zu fürchten, dass sich wegen ihm jemals das Freiburger Historische Kaufhaus zu einer Veranstaltung mit 300 Leuten füllt, auf der er verurteilt wird.

Aber was passiert, wenn sich doch einmal ein Flügel der Inquisition gegen einen der Großinquisitoren selbst richtet? Er beklagt dann bitterlich mangelnde Humanität:

"Mein Weg ist nicht gerade gewesen, aber dass der "Spiegel" eine neue Spruchkammer einführen will, dass man mir ein Fax schickt und mich ultimativ auffordert, mich binnen vier Stunden zu äußern, das lässt doch Humanität vermissen." (SZ, 8. 12. 2003)

Man kann nicht umhin, bei dieser Klage von Jens an das überfallartige Gespräch der Spiegel-Redakteure mit Filbinger zu denken, an dessen Ende der Satz "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!" kolportiert wurde. Was der in die Defensive geratene Ministerpräsident Filbinger nicht konnte, konnte der bekannteste und beliebteste Rhetoriker Deutschlands sehr wohl: Er ließ das Magazin auflaufen. Der Spiegel musste am 6. 12. melden: "Der Tübinger Gelehrte (...) war bis Redaktionsschluss für eine Stellungnahme nicht erreichbar."

Redlichkeit?

Es war Hans Filbinger 1978 auf dem Höhepunkt der Kampagane gegen ihn und auch später nicht vergönnt, im Fernsehen von einem seiner Kinder in familiärer Solidarität befragt zu werden und schwadronieren zu dürfen. Anders Walter Jens. Am 11. 12. 2003 durfte dieser die Sendung aspekte als Forum nutzen, um noch einmal zu bekräftigen, keine "Erinnerungsbilder" an seine NSDAP-Mitgliedschaft zu haben. Er räumte im aspekte-Gespräch mit seinem Sohn, dem Journalisten Tilman Jens, aber ein:

"Ich verstehe, dass viele von mir enttäuscht sind. Ein bisschen frühere Deutlichkeit, etwa am Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre wäre um der umfassenden Redlichkeit willen, angezeigt gewesen."

Die angezeigte Deutlichkeit war leider auch in der Sendung am 11. 12. 2003 noch zu vermissen. Jens hätte auch 1994 redlich sein müssen, als er über Bischof Gröber sprach und 2002, als er meinte, in seiner Rede gegen den Rassismus seine politische Konkurrenz vorführen zu müssen, und und und. Professor Jens hätte nicht nur Anfang der 60er Jahre, sondern immer in seinem rhetorischen Wirken das ganze Mosaik zeigen müssen, und nicht nur die Steine, die ihm passen. Er hätte von sich auf andere schließen müssen und ihnen die selben Schwächen und Stärken als Mensch zugestehen müssen, die auch er und jeder andere hat. Er wäre dann zu milderen und gerechteren Urteilen gekommen.

Mir liegt es fern, für Nachdenklichkeit gegenüber Filbinger und der geschmähten Generation zu werben und aber andererseits über den jungen Jens den Stab zu brechen. Ob einer in der Partei war oder nicht, finde ich nicht wesentlich, entscheidend ist, was er getan hat und was ihn dazu trieb. Der alte Jens weist alle Verdächtigungen zurück, hat für alles eine Erklärung, siehe etwa die Süddeutsche vom 8. 12.  Gerd Simon, ein Mitarbeiter des Internationalen Germanistenlexikons, drückt aus, worum es geht:

"Als Genscher als Außenminister zurücktrat, nicht zuletzt weil seine NSDAP-Mitgliedschaft publik wurde, habe auch ich das für eine überzogene Reaktion gehalten. Berechtigterweise vorzuwerfen war ihm dabei wenig mehr als dass er das so lange verschwiegen hatte. Genau dieser Vorwurf muss nun aber im Fall „Jens“ deutlicher ausfallen, weil das ein Licht auf seine moraltriefenden Auslassungen über Akademiker und Politiker wirft, die die Vergangenheit im 3. Reich und nicht zuletzt deren „Vergangenheitsbewältigung“ betrafen (das kollektive Verschweigen von Jugendsünden ist ja auch eine solche) (...)"

Harald Noth

letschti Änderung 14. 1. 2004

 

Eine seltsame Verteidigung

Der oben erwähnte Tilman Jens teilte am 4. März 2008 via Frankfurter Allgemeine Zeitung der Öffentlichkeit mit: "Walter Jens, mein Vater, ist dement." Er irre nachts durchs eigene Haus und fände sein Bett nicht mehr. "Vor etwa vier Jahren fing es an." Jens junior hält es nicht für makaber, diese bestürzende Nachricht mit der Bemerkung zu verquicken: 

"Im Spätherbst 2003 hat ihn sein phänomenales Erinnerungsvermögen zum ersten Mal verlassen. Er sei sich selbst ein Rätsel geworden. Da geisterte die Karteikarte mit der Ordnungsnummer 9265911 durch die Medien, die seinen NSDAP-Eintritt im Sommer 1942 dokumentierte."

Demnach hätte die Demenz zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens seiner NSDAP-Mitgliedschaft begonnen oder wäre erstmals aufgefallen. Wenn das zuträfe, so würde es erstaunen, dass Walter Jens noch zweieinhalb Jahre später, im Juli 2006, die eigene Kraft und das Ohr der Presse fand, als er sagte:

"Wenn ich an unserem Land etwas auszusetzen habe, dann ist es diese unsägliche Nationalhymne mit dem teilweise unverständlichen Text. Wer weiß denn schon, was 'des Glückes Unterpfand' ist."

Jens schlug als Alternative einen Text von Bertold Brecht als Nationalhymne vor; auch die Melodie sollte neu komponiert werden. Und am 10. Dezember 2006 weilte Walter Jens noch in Kurhaus Kirchzarten bei Freiburg i.B. und hielt zusammen mit seiner Frau Inge eine Lesung aus einen neu erschienenen Buch der beiden.

Bei seiner Flucht nach vorne führt Tilman Jens weitere ehemalige NSDAP-Mitglieder vor: Siegfried Lenz, Dieter Hildenbrandt, Hermann Lübbe, Erhard Eppler und Hans-Dietrich Genscher. Er bemerkt, manche braunen Flecken seien winzig. 

"So winzig, dass man sie eilends vergaß, die Parteieintritte derer, die die noch halbe Kinder waren, als sie sich einreihten in die Bewegung. (...) Das Parteimitglied  Walter Jens hat, da bin ich mir sicher, keinem Menschen auf dieser Erde geschadet. Mein Vater hat den Beginn seiner späteren Biographie nur ein wenig retuschiert."

Der wortreiche Artikel von Tilman Jens stellt die entscheidende Frage nicht und führt damit in die Irre. Gerne folgen wir ihm bei der Bemerkung, seines Vaters brauner Flecken sei winzig gewesen und er habe niemandem als Parteimitglied geschadet. Doch was spielte Jens für eine Rolle in der bundesdeutschen Demokratie?  Ein Dietmar Herrmann aus Tübingen schreibt in der FAZ in den Lesermeinungen im Anschluss an den Artikel von Tilman Jens:

"Nicht ihre Mitgliedschaft in der HJ oder sogar der NSDAP ist dem „guten Menschen von Tübingen“ und anderen Intellektuellen vorzuwerfen, sondern dass sie nicht nur jahrzehntelang ihre Mitgliedschaften in NS-Organisationen verschwiegen haben, sondern sich aktiv an der Verdammung derjenigen beteiligt haben, deren Mitgliedschaften bekannt waren. Jeder noch so kleine Mitläufer galt als Verbrecher. Diejenigen, die der Jugend hätten vermitteln können, wie es geschehen konnte, dass große Teile der deutschen Bevölkerung den Rattenfängerparolen eines Hitlers verfallen konnten, verstummten. Es half ihnen auch nicht, dass sie sich aktiv dem Wiederaufbau des zerstörten und verstörten Landes widmeten. Die Grassens und Hildebrandts schufen mit ihren wortgewaltigen Anklagen erst das Klima des Verstummens und der Verstocktheit mit, das sie anschließend geißelten. Im Feuilleton und vor allem an den Schulen unterblieb weitgehend eine Diskussion, welche Faszination totalitäre Propagandamechanismen auf Menschen ausüben können. Personen wie Carola Stern, die ihre Verführbarkeit in totalitären Systemen analysierten und publik machten, blieben und bleiben die Ausnahmen."

12. 3. 2008 Harald Noth

Siehe auch: Jachertz, Norbert, Deutsches Ärzteblatt: Kommentar - Walter Jens: Grenzfragen

Im Noth Harald si Briäf üs Alemanniä - www.noth.net