aus: Basler Nachrichten, 13. März 1912

Wiltfeber, der ewige Deutsche.

Der Wiltfeber Burtes ist kein Buch, wie sie alle Tage geschrieben werden. Aeußerlich gibt es sich als Roman, als Roman, der einer manchmal beinahe krankhaften fieberischen Spannung nicht entbehrt. Aber schon der Umstand, daß die ganze Handlung der zwölf Kapitel auf einen Tag sich zusammendrängt, freilich einen vollen Tag mit 24 Stunden, der von Mitternacht zu Mitternacht reicht, läßt uns verhältnismäßig wenig eigentliche Geschehnisse und kaum eine Entwicklung erwarten. Wiltfeber ist ein Sohn des Wiesentals. Im vorderen Wiesental haben wir den Schauplatz des Buches zu suchen. Unter durchsichtigen Decknamen bergen sich Lörrach, Schopfheim, Karlsruhe, Basel, der Hornfelsen. Und der Verfasser des Buches kennt nicht nur das Land hier am Rheinknie, er hat es auch so lieb, wie es verdient geliebt zu werden. Wenn wir eins bedauern, so ist es, daß der für Bücherbesprechungen zur Verfügung stehende Raum eines Tagesblattes nicht erlaubt, größere Stücke von besonderem Schwung und auserlesener Wärme abzudrucken.

Allein der Genuß des Buches wird dem Leser nicht ohne Weiteres leicht gemacht. Schon die Sprache klingt manchmal gespreizt und man muß sich schon ein tüchtiges Stück weit hineinlesen, um zu erkennen, daß sie nicht gekünstelt ist, sondern dem Verfasser ganz natürlich fließt, obwohl sie vor Ungewohnheiten nicht zurückscheut. Daß Burte von Formen und Wörtern der Mundart, manchmal auch recht derben, wie Kaib und Dubel, reichlich Gebrauch macht, könnte nach unserem Eindruck bei einem norddeutschen Leser stellenweise geradezu das Verständnis erschweren. So wenig wie durch die ungewohnte Sprache darf man sich einige gewagte aber keinesfalls lüsterne Schilderungen im Anfang und durch manche Unwahrscheinlichkeiten im Verlauf und am Schluß das Urteil über das Buch trüben lassen.

Martin Wiltfeber tifft die Heimat nicht wie er sie zu finden erwartete und wie sie in seiner Erinnerung lebte. Er sucht an diesem inhaltsreichen Tage der Reihe nach alle Kreise seines Volkes auf, den Bauer und die turnende Jugend, den Anhänger der staatlich anerkannten Kirche, die Stillen im Lande, die bei einem Schulfest versammelten Honoratioren und manche andere. Nirgends weckt sein Evangelium vom "reinen Krist" Wiederhall. Ueberall wird er als lästiger Neuerer abgewiesen und verhöhnt. Nur bei einigen Schiffbrüchigen des Lebens, die er in der Höhle am Fluß trifft, stößt er auf Verständnis und Neigung -, in Kreisen also, die tatsächlich nichts zu bedeuten haben und nicht taugen, neue Gedanken verwirklichen zu helfen. Wo Wiltfeber hinsieht, Niedergang, unbefriedigendes Wesen, Komödiantentum, Schönrednerei, Heuchelei! Dies leitet er daher, daß man nirgends mehr versteht, zu befehlen und einem Befehl Nachahmung zu schaffen. Der Meister steht machtlos seinem Knecht gegenüber, die Beamten wollens mit der Bevölkerung nicht verderben, ja selbst "unsere Fürsten sind ganz entfürstet, haben Furcht vor Taten, sind die Prügelknaben ihrer doppelzüngigen Hausmeier, und ganz verlassen vom Geiste des alten Kaisers und des Eisernen".  Oft mahnen die Gedankengänge Burtes an die Gedankengänge alttestamentlicher Propheten, wenn er auch den von diesen gepredigten alten Gott der Israeliten mit den heftigsten Schmähungen bedenkt und ihn für den Niedergang der Besten in Deutschland, der "Blonden" mit verantwortlich macht. Was er an seine Stelle setzen möchte, der vorhin genannte "reine Krist", gewinnt nirgends in dem Buch eine so klare Gestalt, daß man sicher erkennte, was der Verfasser darunter versteht und mit ihm über ihn diskutieren könnte.

Doch soll man den Vergleich mit den alten Propheten nicht so auffassen, als ob Burte nur verstände zu predigen. Er hat ein Auge für die Komik und handhabt den Humor als Meister. Oder was hätte man anschaulicheres gelesen als folgende Schilderung des Kampfgerichts am Turnfest, das sich anschickt, über die Preisverteilung zu beraten:

"Auf der Plattform des Turmes hielt das Kampfgericht seine Sitzung ab: zwölf erlesene und erprobte Turner, Turnkenner und Turnfreunde. Im Angesicht von Gottes freier Natur, wie sie sagten, wollten sie die Kranzordnung festsetzen, samt die nötigen Bemerkungen, Beobachtungen, Schlüsse und Beschlüsse machen.
  Es saßen da Mäner mit Doppelkinnen, Struppbärten, Rundbäuchen, Spitzhäubchen, mit Bäckerbeinen und Turnerbuckeln, mit hohen, abstehenden Schulterblättern und breiten, affigen Händen, wie sie das edle Kunstturnen an Reck, Barren, Pferd und anderen Schulmeistererfindungen und Foltergegenständen hervorbringt. Man hatte die Westen aufgeknöpft, die Röllchen und Vorderhemden auf den Mauerrand gestellt, die Lodenhüte mit den Wald-, Turn-, Sing- und Wundpflegerabzeichen hinten auf die Köpfe geschoben, und fühlte sich behaglich und wohl im gewichtigen Amt und maßgeblichen Wirkungskreise. Es war im Grunde wenig zu besprechen; aber die Mehrzahl der Kampfrichter waren festbesoldete Staatsmäßige, welche es von ihrer amtlichen Tätigkeit her verstanden und fast unbewußt übten, auch den geringfügigsten Gegenstand ein umständliches und erhebliches Wesen und Ansehen zu verleihen."

Man möchte fortfahren zu zitieren, wie das Kampfgericht, "als die Biere gefüllt, die Weinflaschen entkorkt, drei Himbeerlimonaden und ein kohlensaures Wasser gebracht waren", mit geziemender Wichtigtuerei ans Werk ging. Doch wir müssen zum Schluß darauf aufmerksam machen, mit welcher beinahe übergroßen Freundlichkeit Burte auch unser Basel, die Stadt Pfalzmünster, wie er es nennt, wiederholt in seine Geschichte verflicht. Statt einer Aufzählung einzelner Stellen mögen die Seiten hier Raum finden, wo kurz vor dem Schluß des Bandes Wiltfeber mit seiner Egeria, einer adeligen Frau, im Gewitter der Johannisnacht auf dem Hornfelsen steht.

"Ursula seufzte, schaute lange in die Weite, wandte dann scharf den Kopf herüber, daß die Haare vom Winde über das Gesicht gepeitscht wurden und sprach im alten Befehl- und Heischeton zu dem Wiltfeber: "Ich sehe eine Tat im Tale liegen, eine echte Mannes- und Königsaufgabe, und wenn du sie lösen kannst und vollbringen, so bist du ewig ein Deutscher, ein Mehrer des Reichs, kein Wanderer im Reich, kein ewiger Deutscher!
  Im Rheintale liegt die Stadt und am Scheitel des Bogens die ehemalige kaiserliche Pfalz und das Münster im erstdeutschen Stile und das Haus der Deutscherren mit seinen schönen Gartenterassen und seiner Kapelle...und aber dem Reiche entfremdet  ist die alte Stadt und fand nicht mehr heim ans Reich, auch nicht in der größten Not... Nimm heim diese Stadt ans Reich, von dem sie sich abwandte unter Vertragsbruch! Recht oder unrecht, sie gehört zu unserem Lande!... Nach allen Richtungen ziehen die Täler, und kalkige Höhen sind zwischen den Tälern: und wer die Höhen hat, dem ist die Stadt eine Katze in der Falle. Eine Freie Stadt soll sie bleiben, die vierte Hansestadt, aber heim soll sie ans Reich!
  Und du weißt den Weg, und wenn du ihn zu Ende gehst und die Tat tust, so ist gelungen der Schicksalstag, und dein Leben hat seinen Sinn und Zweck: Nimm die Stadt heim, heim ans Reich!..."
  Als Ursula von Brittloppen solches sprach, ernst und streng und fast begeistert, da fing Wiltfeber an herzlich zu lachen, daß es Wind und Wald überscholl. Und lachte wiederum, diesmal schmerzlich und sprach zu dem Weib aus dem Norden: "Vergib mir das Lachen; es geschah nicht über dich, sondern über mein Reich und über seine Machthaber. Ja, deinen Gedanken, Ursula, hatte ich oft, wenn ich diese Stadt bewunderte und verehrte und in Dank ihrer gedachte! - Aber heim ans Reich! ans Reich! - Hast du bedacht, was das heißt? Sollen unsere zwischenhändlerischen Beamten in den Herrenhäusern der alten Geschlechter hausen und sie verderben und entklassen wie die Herrenhäuser im Greifenlande? Soll diese Stadt dem Stimmpöbel ausgeliefert werden, daß er sie beherrsche, wie er beherrscht alle Städte, darinnen unsere Fürsten wohnen? Sollen unsere Hausmeier und Raubbau-Meister auf den Rheinsprung und die Herrenstraße losgelassen werden, bis der schamlose Stückelstil emportrumpft an Stelle der maßvollen, gebändigten Kunst, Haltung und Würde? Nein, Ursula, das soll nicht sein! Und wenn ich es mit einer Handbewegung tun könnte, ich nähme diese Stadt nicht heim ans Reich! Heil dieser Stadt! Sie lehrte mich, was Kultur ist! In ihren Straßen und Plätzen, Häusern und Kirchen, in ihren Sammlungen und Lehrsälen wehte mich der strenge Geist der Wiedergeburt von Kunst und Glauben an! Pfalzmünster ist die geistige Hauptstadt des alemannischen Stammes, sie sollte werden die Hauptstadt des kommenden geistigen Alemanniens! Aber reichisch machen diese Stadt!?... Ursula, was reichisch ist, ist dritten Ranges..."