aus: Frankfurter Zeitung, 5. April 1912

Frankfurter Zeitung

Wiltfeber

Die Geschichte eines Heimatsuchers

Besprochen von Eugen Kalkschmidt (München)

Die Bibel erzählt, daß in den Tagen des Niederganges im auserwählten Volke Männer erstanden, begabt mit der Kraft eines starken und reinen Willens, mit der Einsicht in die Ursachen der gegenwärtigen Uebel, mit der Voraussicht in die zukünftigen Folgen, begabt auch mit großer Redegewalt und durchdrungen von der sittlichen Pflicht, solches alles zum Heile ihres Volkes anzuwenden. So gingen sie hinaus aus irgend einer Stille, einer Einsamkeit und Enge, und suchten die Geister zu erwecken. Sie predigten Gottes Wort, sie fühlten sich als seine besonderen Abgesandten, und gewaltig und einfältig, tiefsinnig und beschwörend drang ihre mahnende und anklagende Stimme durch das Land  wie ein Kriegsruf des Unerforschlichen selber. In diesen Propheten des alten Bundes verschwisterten sich Religion und Poesie,  geistige und sittliche Führerschaft zu einer bezwingenden und aufrührerischen Einheit, deren spärliche Monumente bis in unsere zerklüfteten Tage hinein sich in großen und strengen Folgen erhalten haben.

Unwillkürlich fallen einem die streitbaren Sprecher des biblischen Volkes ein, wenn man das Buch von Wiltfeber, dem ewigen Deutschen liest. Ein merkwürdiges neues Buch. Eines, wie es nur alle zwanzig bis dreisig Jahre einmal geschrieben zu werden pflegt, von irgend einem bisher Unbekannten zumeist, einem, der im Zorn den Mut findet, zu sagen, was er leidet und tausend andere mit ihm. Das aber scheint mir der Fall bei Hermann Burte, den jungen Verfasser dieser Anklage wider den heutigen Deutschen, die gestellt ist, begründet und geführt im Namen des "ewigen" Deutschen, will sagen, dessen, der als unerlöstes Ideal aus der Vergangenheit in die Zukunft schreitet, weil er in der Gegenwart nicht Raum hat, noch haben kann.

Um Mitternacht betritt Wiltfeber nach langen Jahren der Wanderschaft und des Fernseins wiederum den Boden der Heimat, das Dorf im alemannischen Rheingau. In genau vierundzwanzig Stunden erlebt der Heimatsucher in gedrängter Flucht alles, was ihm diese erträumte und verklärte Heimat alles zu bieten hat, was sie als Gemeinschaft und als Stätte der Einzelarbeit für einen geistigen Menschen der Gegenwart sein und bedeuten kann. Das Ergebnis ist trübe und schlägt den Wiltfeber in die Flucht, schlägt ihn zum ewigen Deutschen mit dem Ritterschlage der Erkenntnis: "Genieß und stirb!" Das ist die Summe und das Ende von Lebensliede, welches anhub mit: "Großer Gott, wir loben dich!" - Denn: 

"Ich suchte die Schönheit und fand den Wust; ich suchte ein Dorf, da lag es im Sterben; ich suchte den Gott der Leute in der Heimat, da war es der Stammesgott, das vergottete Rassenselbst einer Wüstensippe; ich suchte die Macht, da war sie geteilt unter alle, so daß keiner sie hatte und nichts getan werden konnte; ich suchte den Geist, da faulte er in Amt und Gehalt; ich suchte das Reich, da war es eine Herde Enten, welche den Aar lahmschwatzten; ich suchte meine Rassenbrüder, da waren es Mischlinge siebenten Grades, bei denen jedes Blut das andere entartete; ich sah nach ihrer Lebensfürsorge, da war es ein gegenseitiges Verhindern; und als ich endlich nach den Geistigen sah, nach denen, deren Arbeit allein mit Sinn begabt das Werken der Manchen, da waren sie in das Blondenviertel gebannt und totgeschwiegen. Und ich fand nichts, Ursula, nichts, was der Verehrung würdig gewesen wäre! -  Nur eines blieb mir lieb, das waren die heimlichen Helden, die geduldigen Mühseligen, die leidenden Sucher, da litt ich mit, da fühlte ich Stücke meiner Art; freilich verehren kann ich sie nicht."

Das sind starke Worte. Worin besteht ihre Beglaubigung? In weiteren Worten und Gesprächen, worinnen klein und fein gemahlen wird, was hier als gekörnte Weisheit letzten Schlusses halb noch zornmütig bitter, halb wehleidig verzweifelt aufgetragen ist. Diese Geschichte eines Sehenden, der sich an die Heimat verlor, um sich im Zeitlosen, in der Ewigkeit wiederzufinden, ist ganz und gar durchglüht von dichterischem Feuer, ist ein Bekenntnisbuch und eine schneidende Auseinandersetzung mit fast allem, oder doch dem meisten von dem, was das gegenwärtige Leben in Deutschland berührt und bewegt. Eine Dichtung aber, die in Gestalten spräche, denen man das Mal des Lebens von der Stirne ablesen könnte - eine solche Dichtung ist diese rauschende Predigt nicht.

Wir wollen nun nicht die Torheit begehen und mit dieser Meinung den Geist und Gehalt eines Werkes erschlagen, das vor tausend anderen gehört zu werden verdient. Wir wollen nur, kraft unserer Pflicht als Grenzwächter künstlerischer Ausdrucksformen, festzustellen suchen, welcher Art diese neue geistige Frucht ist und was sie wert ist.

Ich mag nicht genauer nacherzählen, wie Martin Wiltfeber in der Taufrühe des Johannistages sein früheres Feinsliebchen im Bade belauscht, wie er sich der schwarzen Madlon neu verspricht, aufs Turnfest geht und in die Kirche, aufs Schulfest, zu den Lauten und in die Stündelei zu den Stillen im Lande; was er in der "Blondenhöhle" erfährt, und wie schließlich nicht die schwarze Magd in der Landestracht, sondern Ursula, die weiße Dame mit Kraftwagen und Windspielen es ist, die ihm um die zweite Mitternacht zur Seite ruht, ehe daß der Blitz die zwei Liebenden erschlägt. Im Stoffe, in irgend einer spannenden Fabel ruht der Reiz und Wert eines solchen Werkes ja nie; es ist eher merkwürdig, wie wenig Stoff der Verfasser braucht, um ihm seine Ideen Gott, die Welt und das deutsche Jammertal in markigen Sprüchen einzuhämmern. Will er doch nichts geringeres, als den geistigen Gesamtgehalt der Zeit, des deutschen Tages gleichsam, in ein Epos schließen, das über alle kleine und kleinliche Wirklichkeit hinausstrebt zum Symbol, zum Denkmal eines Begriffes vom Deutschtum, wie es ein phantastischer Idealist in seinen gehobenen Stunden sieht und im Alltage, mit dem er es kontrastiert, nie finden wird.

Der Dichter - denn das ist er freilich in hohem Maße - entwirft also ein Leitbild, geschöpft aus den Tiefen einer Sehnsucht, die sich in den Tag verirrt hat und deshalb irr am Tage wird. Er schafft sich in Wiltfeber einen Uebermenschen, schön, stolz und kraftvoll, vergeistigt über die Maßen und dennoch von allen Sinnen trunken, einen, der nicht leben kann und ganz folgerichtig vom Blitz erlöst wird. Wie eine Wolkenspielgelung zieht dieses Symbol des "ewigen Deutschen" vorüber, sturmbewegt und zetrissen, ungreifbar, und doch voll seltsam anziehender Realität. Denn aus all diesen Gedanken, Selbstgesprächen und Streitreden tönt ein Grundklang, strömt eine geistige Atmosphäre, die heute vorhanden ist bei uns; ein Unmut und eine Zornmütigkeit, die über der Leere innerhalb des Lebens sich träge und dunkel zusammengeballt haben wie Wetterwolken über der gedörrten Steppe. Es ist das vielleicht ein versetzter, verhockter Idealismus, der nicht recht weiß, wohin mit dem Freund, der in seiner tödlichen Verlegenheit skeptisch, kritisch, ängstlich, nörgelig und gutbürgerlich geworden, der eigentlich ein waschechter pessimistischer Idealismus ist.

Diesen Stimmungen oder besser Verstimmungen gibt das Bekenntnisbuch Hermann Burtes eine aufreizend kühne Bilder-Sprache. Es verschlägt nichts, wenn diese Sprache oft eine antithetische Sprüchelei im Stile des späten Nietzsche ist; daß sie gewaltsam psalmodiert und mit Begriffen und Worten ein Phantasiespiel treibt, das alle Sprachinhalte durcheinander wirbeln macht zu neuen Bedeutungen und Beziehungen hin. In dieser Sprachkraft, so eigensinnig sie häufig übers Ziel schießt, ist stärkste dichterische Begabung, in dem Gesamtgehalt dessen, was sie vermittelt und bündig formt, ist eine nicht gewöhnliche Kraft geistigen Bekennens, spürt man eine Persönlichkeit, die sich eine wahrhafte Not von der Seele redet. Eine Not, die jung ist und schier verzweifelt, die blindlings um sich haut und allen wehe tun will, aber am weitesten sich selber verwundet, wie der Wiltfeber am Schlusse gestehen muß. Eine seelische Not, die denkt, wenn sie dichtet und dichterisch sieht, wenn sie in Gedanken säumt und Psalmen klingen läßt wie diesen hier:

"Der Mensch aber macht sich zum Maße aller Dinge und schiebt ihnen seine Triebfedern, seine Launen, seine Wünsche unter!
  Da läßt er Magnete sich lieben, Wellen wandern, Nachtigallen schluchzen, Winde heulen, den Mond erbleichen: der Mensch vermenscht die Welt.
  Mit dem ersten Worte, das er sprach, begann er seinen Krieg mit Gott; denn Gott vergaß sich selber und gab sich preis, als er die Welt schuf. Er wohnte im Schweigen und ruhte im Nichts. Da war er ER. Aber vom siebten Tage an hat er sich bloßgestellt, und langsam aber sicher machen die Gedankengänge des Menschen das Gotteswerk zu Menschenmehl.
  Und zornig ist Gott über seine Schöpfung, und wie ein Glockengießer die übeltonigen Glocken herunterholt vom Turme und sie umgießt, so reißt Gott die übelgestimmten Sterne aus dem Weltengang und gießt sie um ....
  Noch scholl das Geläute und erfgriff den Einsamen, und Wiltfeber, der Denker, wich Wiltfeber, dem Danker."

Der Denker - der Danker; Frucht und Fracht; Zeugung und Beugung; zur Forderung, zur Förderung - es sind nicht immer lebendige, sind oft künstliche Blüten, die der Verfasser derart zum Kranze verbindet. Er ist überhaupt sehr leicht ins Lächerliche zu ziehen wie jeder, den die Begeisterung wehrlos und blind macht. Und nun gar noch die Begeisterung, die sich selber zerfleischt und ins Nichts vergehen will als ein Ewiges!

Es ist ein Sturmbuch der gärenden Jugend, diese sonderbare Urkunde von Wiltfeber, dem Deutschen, der die Gegenwart verschlossen findet. Ein Sturmbuch, vielleicht ein Wetterzeichen am Horizont. Viele Leute werden nach ihm ausschauen und Aergenis an ihm nehmen. Andere werden an die flatternden Wimpel des Rembrandtdeutschen gemahnt werden. Die Verwandtschaft ist unbestreitbar. Und der "Reine Krist", von dem Wiltfeber als dem Erlöser träumt, ist im Grunde nichts anderes als der Idealmensch, von dem schon Lagarde gesagt hat: "Es soll Menschwerdungen Gottes so viele geben, wie es Menschen gibt, und ihr habt, die einen diesen, die anderen jenen Menschen ausgesucht, den ihr als Non plus ultra von ganzer oder halber oder sonstwie geteilter Gottmenschlichkeit anpreist, und nach diesem wünscht ihr unsre Jugend zu modeln. Schablonen verkauft ihr ..." Das Ideal legt dieser zornige Idealist nicht ganz soweit in die Ewigkeit wie Hermann Burte, denn Lagarde sagt, deutlicher noch: "Das Ideal liegt in demjenigen Menschen, der das heute ist, was er heute sein soll." Mit dieser Weisheit läßt sich immerhin auch heute noch mehr anfangen als mit des Wiltfebers geknicktem Abschiedswort: "Genieß und stirb!"