Ghana 1984 - in die vorindustrielle Zeit zurückgefallen Im Sommer 1984 machte ich eine Reise durch Togo, Ghana und Obervolta/Burkina Faso. In Ghana erlebte ich eine brutale Ausnahmesituation. Ausländer waren damals so gut wie keine im Land; ich selbst gelangte mit Hilfe zweier Freunde und Entwicklungshelfer hinein, mit denen ich die Verwandten der afrikanischen Frau des einen besuchte. Das Land hatte seit der Unabhängigkeit 1957 einen stetigen Niedergang erlebt. Der Fliegerleutnant Jerry Rawlings hatte 1981 geputscht und mit seinem revolutionären Pathos zusätzliches Misstrauen der westlichen Länder erweckt. Die seit 1983 wieder vereinbarte "Hilfe" internationaler Finanzorganisationen hatte noch nicht gegriffen. Das Land musste sich auch von einer katastrophalen Dürre noch erholen. Es lief kaum etwas; meist gab es keinen Strom, riesige Hotels, die leer standen und verfielen, besaßen kaum Glühbirnen, die hätten brennen können, wenn es doch einmal Strom gab und ein Gast sich ins Hotel verirrte. Von der Masse des Volkes ganz zu schweigen; auch Großstädte lagen Nachts im Dunkeln. An Landstraßen hingen Drähte von Strom- oder Telefonmasten zerrissen auf der Erde. An den Zapfsäulen der Tankstellen warteten Hunderte von Metern lange Schlangen. Da der Sprit - wenn einmal gerade vorhanden - nur an bestimmten Tagen an entweder gerade oder ungerade Autonummern ausgegeben wurde, stellten Angehörige der Mittelklasse ein Fahrzeug mit passender Nummer in die Schlange, während das andere, sofern es betankt war, fuhr. Straßen - billige Hilfsprojekte von Industrieländern - besaßen oft nur hauchdünne Teerdecken, die von Schlaglöchern übersät waren und von der Natur zurückerobert wurden. Ghana ist seit 1966 von einem Stausee durchschnitten, der die Länge von 2/3 des Landes hat. Er hatte in besseren Zeiten der Stromerzeugung gedient. Vielleicht wurde auch 1984 noch etwas produziert. Den See mit Fahrzeugen zu überqueren war, als wir ankamen, aber nicht mehr möglich, weil die Fähren defekt waren und die Ersatzteile aus dem Ausland wegen der Zahlungsunfähigkeit des Landes nicht mehr kamen. Um auf die andere Seite des Sees, also in den anderen Landesteil zu kommen, hätte z. B. ein LKW unter Umständen Umwege von Hunderten von Kilometern über Schlaglochpisten fahren müssen - die LKWs waren oft in gotterbärmlichem Zustand. Das Land glich einem Museum. Es standen Fahrzeuge, Maschinen, elektrische Geräte und anderes herum, sie liefen aber meistens nicht. Ghana war in eine Art Naturzustand zurückgeworfen. Auf dem Land arbeitete, aß, wohnte man wie 100 Jahre früher - nur dass ein Vielfaches an Bevölkerung vorhanden war. Ärmere Leute ernährten sich von einer Handvoll Fufu, einer kartoffelbreiartiger Masse, die es, in ein grünes Blatt eingewickelt, auch am Straßenrand zu kaufen gab. Dass Brennholz viele Meilen weit auf dem Kopf herbeigetragen werden musste, war freilich auch in den Nachbarländern zu sehen. Ein Massenexodus nach Nigeria und andere benachbarte Länder hatte stattgefunden. Einmal hat Nigeria von heut' auf morgen eine Million Ghanaer ausgewiesen. Die Grenzen waren recht durchlässig; nahe der Großstadt Lomé (Togo) überschritten Hunderte von Fußgängern mit Einkaufskorb usw. täglich die Grenze. Kaum ein gewöhnlicher Mensch war dort im Besitz von Papieren - es ging für Einheimische ohne. Da die Grenzen willkürlich Stammesgebiete durchschneiden, wohnen hüben und drüben Verwandte, die niemand hindern konnte, zusammenzukommen. Ein Tagelöhner verdiente ungefähr 500 Cedis im Monat. Ein Essen nach europäischem Standart kostete 300 Cedis, eine Handvoll Fufu 25. Eine Dose Schuhwichse 200, ein Schaf 2000 Cedis. Um sich eine Flugkarte nach Europa zu kaufen, hätte ein Tagelöhner sein ganzes Leben lang nur dafür arbeiten können - er hätte es nicht geschafft. Während dieser Krise setzte auch ein Flüchtlingsstrom nach Europa ein, in Deutschland namentlich nach Westberlin. Junge Leute aus "wohlhabenden" Schichten, die im Land keine Perspektive mehr sahen, reisten über den DDR-Flughafen Schönefeld nach Westberlin ein und beantragten meist politisches Asyl. Sie mussten für diese Reise ein - nach ghanaischen Maßstäben - mittelständisches Vermögen aufbringen. Da kaum einer anerkannt wurde, wurden sie nach wenigen Jahren wieder abgeschoben. Wenn es in dieser Zeit gelang, eine Schrottlaube zu erwerben und die Kosten für einen Transfer des Autos nach Ghana aufzubringen, galt der Aufenthalt in Deutschland als, wenn nicht erfolgreich, so doch auch nicht als Verlust. Wenn noch eine Stereoanlage mitgenommen werden konnte, war man hoch im Plus. Wer der Abschiebung durch eine Heirat mit Deutschen entgehen konnte, konnte natürlich zu mehr kommen. Soweit weiß ich es vom ghanaischen Freunden in Berlin, wo ich bis 86 wohnte. Es kam damals auch zur Überschwemmung des Rotlichtmilieus durch ghanaische Frauen. Landsleute in Berlin schickten den Frauen (und auch Männern) das Flugticket - jetzt konnten auch ärmere kommen. Die Neuankömmlinge mussten die ausgehandelte Summe für die "Fluchthilfe" nun abarbeiten und an den Mittelsmann und oft Zuhälter auszahlen. In der taz vom 19.9.1985 berichteten Hildegard Meier und Helga Lukoschat aus Westberlin:
Am Geschäft mit den Ghanaerinnen verdienten auch Deutsche kräftig: Mitglieder der Alternativen Liste Berlin setzten sich damals vor startende Flugzeuge, um gegen Abschiebungen von Ghanaer/innen zu protestieren. Ich war Mitglied der Liste und ihres "Ausländerbereichs", sah aber nach meiner Afrikareise - entgegen meinen bisherigen Ansichten - keinen Sinn mehr in solchem Protest. Die Ankömmlinge waren größtenteils keine politischen Verfolgten und schadeten denen, die wirklich auf politisches Asyl angewiesen waren. Mit dem Zustrom der Ghanaer/innen war niemandem gedient - außer in Deutschland den Zuhältern und in Ghana - vielleicht - den betreffenden Familien. Ghana als Ganzes hatte nichts davon, der Import von PKWs, Kühlschränken und Stereoanlagen verstärkte die Abhängigkeit und den falschen Entwicklungsweg, den ich bei meinem Aufenthalt im Land vor Augen gehabt hatte. Man hätte dem Land und seinen Menschen anders helfen sollen - auch anders, als es dann durch den Internationalen Währungsfonds geschah. Soviel und mehr Gründe einzuwandern als die Ghanaer in Berlin hatten Dutzende Millionen andere Menschen in Westafrika. Ähnliche Erfahrungen hatte ich schon bei mehreren Reisen in die Türkei gemacht. Mir kamen grundsätzliche Bedenken gegen die von der AL propagierte "freie Einwanderung" und ich äußerte sie auch. Dann schlug mir Argwohn entgegen. Ich fand mich, wenn nicht in die Neonazi-, dann doch in die rechte Ecke gestellt. Darum und wegen anderer Ungereimtheiten der Großstadt emigrierte dann auch ich - zurück in meine Heimat. Harald Noth
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