Leserbrief zu: Jean-Jacques Waltz und Joseph Rossé – zwei Schicksale im Elsass

(betr.: Hansis Preußenbild, die "Unterdrückung der französischen Sprache", die sogenannten Nanziger, das "Vichy-Regime")

Dr. Rudolf Benl, Erfurt, schrieb am 3. März 2013:

Jean-Jacques Waltz war in einem solchen Grade verlogen, daß man seinen Erzählungen über seine „Erlebnisse" mit den „Preußen" nicht den mindesten Glauben schenken darf.

Schon mit der Übernahme des Begriffs „Preußen" geht man ihm und seinesgleichen auf den Leim. Das Reichsland hatte mit Preußen nicht mehr zu tun als alle Bundesstaaten des Reiches (zu denen Elsaß-Lothringen zumindest bis 1911 nicht gehörte). Daß unter den nach 1871 nach Elsaß-Lothringen gekommenen Altdeutschen die preußischen Staatsbürger den größten Teil darstellten, hatte einfach mit der Größe des preußischen Staates zu tun. Schon ein aus Saarbrücken, ein aus Trier Gekommener war Preuße. Von den sechs kaiserlichen Statthaltern waren drei geborene Nicht-Preußen: Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürst, Hermann von Hohenlohe-Langenburg und Graf Karl Wedel, der 1866 noch in der hannoverschen Armee gegen Preußen gekämpft hatte. Lediglich zwei, die insgesamt nur neun Jahre abdeckten, waren Preußen: Edwin v. Manteuffel und Hans v. Dallwitz.

Aus sehr einsichtigen Gründen, über die man aber nicht sprach, wollten die unermüdlichen Stimmungsmacher um Pierre Bucher, Abbé Wetterlé, Jean-Jacques Waltz usw. nicht sagen, sie litten sous la botte allemande, sondern sie behaupteten, sie litten sous la botte prussienne. Dem Wort „Preußen" war in Frankreich durch eine sehr grobe Propaganda bereits zwischen 1815 und 1870 ein schlechter Ruf angehängt worden. (Vor 1806 war das anders gewesen, da hatte man in Österreich den Hauptfeind gesehen.) So konnten die Ligue d'Alsace, Kanonikus Winterer, Sieffermann, Dollfus usw. und in der nächsten Generation die Genannten, Waltz, Wetterlé usw., an ein bequem zu verwendendes Schlagwort anknüpfen.

Was es mit der angeblichen Unterdrückung durch die „Preußen" in Wahrheit auf sich hatte, machte der sonst sehr frankophile Robert Heitz sehr offenherzig deutlich, als er in seinem Erinnerungsbuch „Souvenirs de jadis et de naguere" schrieb:

„Le liberalisme des méthodes gouvernementales du Deuxieme Reich (et qui ferait taxer de faiblesse coupable tout Gouvernement de la République française) est un fait dont on ne convient pas volontiers en Alsace, surtout dans les milieux officiels ou desirant plaire aux dits milieux. À ce sujet et entre parenthèses, la petite anecdote que voici: dans un article de revue sur Gustave Stoskopf, je parlais incidemment de ce libéralisme d'avant 1914. Quelques j ours plus tard, inaugurant une plaque commémorative pour Stoskopf, un Ministre de la Quatrième République prenant son bien où il le trouvait, citait presque textuellement ce que j'avais écrit, mais prit soin d'ajouter que ce liberalisme n'était qu'apparent ... Eh bien, malgré l'evangile officiel, je maintiens que, sous bien des rapports, l'administration imperiale (le régime constitutionnel n'est pas en cause ici) était plus libérale, plus tolérante et surtout moins mesquine que les 3e et 4e Républiques. Hansi lui-même, qui pourtant faisait figure de martyr de le brutalité allemande, un jour que je lui en parlais, ne put s'empêcher de reconnaître: ,Évidemment, je ne pourrais pas me permettre aujourd'hui ce que je faisais avant 1914."`

Der ehemalige Landespolitiker Helmer schrieb 1915, als er schon in Frankreich saß, mit zynischer Offenheit: „Nous réclamions sous le régime allemand la plus large mesure de libertés qu'on pouvait nous accorder [...] Mais si l'on nous avait donné le régime le plus libre, nous aurions trouvé une autre question à soulever pour donner un objet à notre résistance."

Von einer Unterdrückung der französischen Sprache, von welcher ich in Ihrem Text lese, vermag ich in der Reichslandzeit nichts zu bemerken. Daß nach 1871 nicht mehr, wie zuvor, in den Volksschulen Kindern, die in deutschsprachigen Familien deutschsprachig aufgewachsen waren, das Französische beigebracht wurde, bedeutete noch lange keine „Unterdrückung" des Französischen. In den Schulen, in denen Fremdsprachenunterricht geboten wurde, hat man selbstverständlich weiterhin Französisch unterrichtet. Es gab französischsprachige Zeitungen, französischsprachige Zeitschriften und Bücher, französischsprachige Anzeigen in Zeitungen und Büchern, im kirchlichen Bereich behielt das Französische eine unverhältnismäßige Stellung. So erschien das Amtsblatt der Diözese Metz bis in den Weltkrieg hinein in französischer Sprache, und dies unter dem altdeutschen Bischof Benzler! Das alles unterscheidet sich stark vom Vorgehen des französischen Staates nach 1918 und vor allem nach 1945. Hierfür ist tatsächlich zu Recht von einer Unterdrückung zu sprechen - aber der deutschen Sprache, die im Elsaß seit der Völkerwanderung Heimatrecht hatte.

Die Großzügigkeit der reichsländischen Verwaltung gegenüber manchen sich harmlos gebenden Umtrieben, die ja, wohlgemerkt, nur durch eine Minderheit, doch eine entschlossene Minderheit, der Bevölkerung vertreten wurden, war so groß, daß sie auf die gutwillige Mehrheit, die in Frieden und Ruhe im Deutschen Reich leben wollte und mit dem Erreichten, was sehr viel mehr war, als jeder französische Staat dem Land hätte bieten können, zufrieden war, entmutigend und demoralisierend wirken mußte. Diese Entmutigung war um so stärker, als sich gleichzeitig die politische Großwetterlage sehr rasch zu Ungunsten Deutschlands und zu Gunsten der Randmächte, die sich die Zukunft der Mitte Europas anders vorstellten und auf entsprechende Veränderungen hinarbeiteten, veränderte, sich zum Beispiel die französische Diplomatie (im Bunde mit der russischen) unentwegt darum bemühte, den beiden mitteleuropäischen Kaisermächten noch die letzen potentiellen Verbündeten (Rumänien, Italien) abspenstig zu machen, um sie in dem großen Krieg, den alle nahen sahen und den gerade diese Diplomaten mit unermüdlichem Eifer herbeizuführen bestrebt waren, auf sich allein gestellt zu sehen.

Den sogenannten Nanzigern ist aus Ihrer Erklärung vom 18. Juli 1940 kein Vorwurf zu machen. Viele von ihnen hatten sich im September 1939 pflichtgemäß als französische Unteroffiziere und Offiziere gestellt und waren aus den Unterkünften heraus verhaftet, schließlich wochenlang unter erbärmlichen Umständen durchs Land geschleppt worden, hatten ständig befürchten müssen, das Schicksal von Karl Roos zu teilen, was sie sicherlich, wäre der Feldzeug anders verlaufen, auch hätten teilen müssen. Ihre Solidarität mit einem Staat, der sie schon vor 1939 schlecht behandelt hatte, dem sie aber dennoch als Staatsbürger und Soldaten hatten dienen wollen und der sie dafür schlecht belohnt hatte, war verständlicherweise erschöpft. Daß sie auf Drei Ähren einem gewissen Druck unterlagen, ist unverkennbar. Es handelte sich aber eher um einen zeitlichen Druck, der darin bestand, daß die Erklärung noch vor Hitlers Reichstagsrede vom 19. Juli 1940 in Berlin ankommen sollte, um Hitler, der keine gute Meinung von den Elsässern hatte, für das Elsaß und die Elsässer freundlich zu stimmen. In seiner Rede vor dem Reichstag nahm Hitler das Wort „Elsaß" dann überhaupt nicht in den Mund. 

Mit dem Verhalten der Nanziger vergleiche man das Verhalten jener Politiker, die sich 1914 noch vor dem Kriegsausbruch über die deutsch-französische Grenze machten und dann, in Paris in der „Conference d'Alsace-Lorraine" sitzend, französische Gesetze für ein völkerrechtlich noch zum Deutschen Reich gehörendes Land berieten und vorbereiteten: Blumenthal, Helmer, Laugel, Weill, Wetterlé und andere. Sie verrieten ihre Pflicht, ließen ihr Land und ihre Wähler im Stich und lieferten sich dem Landesfeind aus. Wie anders war da doch das Verhalten der sogenannten Nanziger! Ich habe aber noch nicht vernommen, daß im heutigen offiziellen Elsaß am Verhalten der Herren Blumenthal, Helmer, Weill Anstoß genommen würde, im Gegenteil. 

Sie schreiben in Ihrem Text vom „Vichy-Regime", sicherlich in abwertender Absicht, wie das zu geschehen zu pflegt. Für die Zeit, auf die Sie den Begriff anwenden, ist er gar nicht berechtigt. Am 16. Juni 1940 - da waren die Kampfhandlungen noch im Gange - wurde Marschall Petain mit der Bildung einer neuen französischen Regierung beauftragt, am 1. Juli beschloß die neue Regierung, von Bordeaux nach Vichy überzusiedeln. Am 10. Juli beschloß die in Clermont-Ferrand tagende französische Nationalversammlung mit 569 gegen 80 Stimmen, der Regierung weitreichende Vollmachten zu erteilen; damals war noch Albert Lebrun Staatspräsident! Erst am 11. Juli trat Lebrun zurück und übernahm Petain das Amt des Staatsoberhaupts. Sicherlich saßen zu dem Zeitpunkt, da von französischen Stellen die Freilassung der Nanziger verfügt wurde, weder der Präsident noch die Regierung in Vichy. Der Übergang der Macht auf Petain war, wie man sieht, völlig verfassungskonform und in den vorgeschriebenen rechtlichen Formen der Verfassung der Französischen Republik erfolgt. Es ist kein Grund vorhanden, dies durch abwertende Begriffe in Zweifel zu ziehen. 

Auf Erden siegt die Macht des Faktischen, so geraten unter einer aus späteren Zeiten kommenden übermächtigen Beleuchtung Geschehnisse nachträglich zu Unrecht in ein ihnen fremdes Licht, das ihr eigenes völlig überstrahlt. Am Ende stand der Brigadegeneral de Gaulle, der am 22. Juni 1940 aus der französischen Armee ausgestoßen worden war, auf der Siegerseite und konnte Rache nehmen. Das war aber 1940 so eindeutig nicht vorherzusehen.