29. Juli 2023 Martin Walser und "unsere Schande"
Martin Walsers literarische Qualitäten sind hoch und werden vom
offiziellen Literaturbetrieb nun nach seinem Tod ausreichend gewürdigt.
Der Dichter war aber auch politisch ein Schwergewicht. 1976 etwa nannte
er, wie es der Mode der Zeit entsprach, den Ministerpräsidenten
Hans
Filbinger einen jener Herren, von denen einige "Handlanger der
Unfreiheit waren, während Sozialdemokraten im KZ saßen". Solche und
eindrücklichere Beispiele gäbe es viele aufzuführen.
Wenn Leute mit 70 noch das Gleiche denken wie mit 17 oder 37, komme ich
ins Zweifeln. An Walzer fasziniert mich gerade, wie er sich gewandelt
hat. 1998 sagte er in der Frankfurter Paulskirche: "Auschwitz
eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares
Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung." Was
er in vergangener Zeit selbst produziert hatte, nannte er in der
Paulskirche die "Instumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen
Zwecken". Eine verkappte Selbstkritik? Der Aufschrei in den Medien, die
er natürlich vor allem meinte, war furchtbar. Später het er diese
Äußerungen als missverständlich wieder zurückgenommen; aber der Ruhm,
den deutschen Schuldkult so auf den Punkt gebracht zu haben, wird ihm
ewig anhängen. |