Der folgende Artikel erschien erstmals im Heft 2/4 2019 des Westen (Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft "Der Westen", bestehend aus der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Erwin von Steinbachstiftung sowie der Erwin von Steinbach-Stiftung). Es folgt eine ungekürzte Wiedergabe.
„Das Schloß Dürande“ – eine
Oper wird ausgeschlachtet
Von Harald Noth
Am 1. April 1943 wurde in der Staatsoper unter den Linden zu
Berlin die Oper „Das Schloß Dürande“ von Othmar Schoeck uraufgeführt; sie sollte
nach kurzem Erfolg ein nimmer enden wollendes Fiasko erleben. Der bedeutendste
Schweizer Komponist des 20. Jahrhunderts hatte den aus dem badischen
Markgräflerland stammenden Hermann Burte als Librettisten gewonnen; der deutsche
und alemannische Dichter schrieb die gleichnamige Prosavorlage Joseph von
Eichendorffs in gereimte Verse um. Die musikalische Leitung der Erstaufführung
hatte
Robert Heger, ein gebürtiger Straßburger, der in der Münsterstadt auch seine
musikalische Karriere als Opernkapellmeister begonnen hatte und später an
verschiedenen deutschen und österreichischen Opernhäusern wirkte.
Die Uraufführung war sehr prominent besetzt und wurde auch im Rundfunk
übertragen. Das Publikum und auch der Komponist selbst waren begeistert. Der
Korrespondent der Neuen Züricher Zeitung, Ernst Isler, telegrafierte an das
Blatt: „In Libretto und Komposition ist das Werk eine ausgesprochen große Oper“.
Doch schon am 14. April schlug förmlich eine Bombe ein: Reichsmarschall Hermann
Göring, als preußischer Ministerpräsident Vorgesetzter der vom preußischen Staat
unterhaltenen Theater, schickte an Heinz Tietjen, den Generalintendanten der
Preußischen Staatstheater, ein wütendes Telegramm. Er schrieb: „Habe soeben das
Textbuch der zur Zeit aufgeführten Oper Schloß Durande gelesen, es ist mir
unfaßbar wie die Staatsoper diesen aufgelegten Bockmist aufführen konnte. Der
Textdichter muß ein absolut Wahnsinniger sein. Jeder einzige, dem ich nur einige
Zeilen vorgelesen habe, verbittet sich das Weitere selbst zum Lachen, als
absoluter Schwank ist es noch zu blöde. Ich wundere mich, daß unsere Mitglieder
derartige Schafsrollen übernommen haben. Sie hätten sich insgesamt weigern
sollen, diesen aufgelegten Bockmist zu singen.“ Göring hatte die Oper gar nicht
gesehen, sondern nur das Textbuch gelesen. Auch der Dirigent bekommt sein Fett
ab: „Entweder ist der Dramaturg oder Professor Heger der Schuldige an diesem
Skandal. Wie konnte Professor Heger mir in Rom davon derart vorschwärmen.“ Die
Oper wurde schon nach vier Vorstellungen abgesetzt; Aufführungen im Juni 1943 in
Zürich hatten wenig Erfolg, ein Teil des Schweizer Publikums nahm Schoeck übel,
daß er den deutschnationalen, 1936 auch NSDAP-Mitglied gewordenen Burte mit der
Anfertigung des Librettos beauftragt hatte und die Oper in der Hauptstadt des
nationalsozialistischen Deutschlands hatte uraufführen lassen.
Es war dies nicht das erste Mal, daß Hermann Burte mit seinen
deutschnational geprägten Bühnenwerken den Unmut führender Nationalsozialisten
erregte. Es sind auch despektierliche
Äußerungen von Propagandaminister Goebbels
bekannt, in denen er seine Werke „Katte“ und „Herzog und Henker“ (= „Herzog
Utz“) schmäht; letzteres Werk sei „uns weltenweit fern“.
Nach den Mißerfolgen in den Vierzigerjahren verschwand das
„Schloß Dürande“ in der Versenkung, sieht man einmal von einer stark
gekürztenkonzertanten Aufführung ab, die 1993 in Berlin stattfand. Der Unmut
gegen den Textdichter blieb lebendig; der in der Schweiz tätige Musikhistoriker
Chris Watson
schrieb 2002 einen furchtbaren Verriß des Burte-Librettos, er endet
mit den Worten: „Das Schloss Dürande wird man wahrscheinlich – nein, hoffentlich
– nie wieder auf der Bühne zu sehen bekommen.“
Othmar Schoeck. Zeichnung von Hermann Burte
Doch schon ein Jahrzehnt später regte sich neues Interesse für dieses
„Schlüsselwerk der Schweizer Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts“, der
Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters, Mario Venzago, hält diese Musik für
„etwas vom Wunderbarsten, was Schoeck geschrieben hat. Es ist recht eigentlich
sein opus summum.“ Der Wunsch, das Werk erneut aufzuführen, wurde übergroß. Dem
stand ein ebenso großes Hindernis im Wege: das Libretto des „völkischen“
Dichters Hermann Burte. Die Oper sei durch den Burte-Text „nationalsozialistisch
kontaminiert“, hieß es in den Schweizer Medien vielfachund in den deutschen
sowieso. Der Schweizer Kulturbetrieb, normalerweise kritisch bis überkritisch
gegenüber dem großen Kanton im Norden, unterscheidet sich hier nur wenig von der
deutschen Kultur- und Medienwelt. Daß Göring den Text in Grund und Boden
stampfte, macht die Nachgeborenen der zwölf Jahre nicht nachdenklich – nicht
einmal in der Schweiz. Das wütende Telegramm gegen den „wahnsinnigen
Textdichter“ ist verstörend und störend. Es gab Versuche, es als Ausbruch gegen
die Opernmusik, den Part Schoecks,umzudeuten, so als Mario Venzago gegenüber der
„Berner Zeitung“ sagte: „Ich habe nie herausgefunden, ob er [Göring] gemerkt
hat, dass das Stück seine Ideologie nicht bedienen wollte, oder ob ihm der
depressive Charakter der Musik auf die Nerven ging.“ Venzago geht hier darüber
hinweg, daß Göring die Musik gar nicht kannte und läßt es dem
Interviewer, Peter Wäch, auch durchgehen, daß er Goebbels (!) für den
Telegrammschreiber hält. Rolf App meint in der Luzerner Zeitung: „Worüber sich
das Nazi-Schwergewicht derart aufregt, bleibt unklar. (…) Der Textdichter
Hermann Burte ist unverdächtig, da bekennender Nationalsozialist.“ Nach dieser
Lesart wäre dann das Göring-Telegramm ein nationalsozialistischer Affront gegen
den schweizerischen Komponisten – ist es aber nicht. Es richtet sich gegen Burte
und sonst niemanden.
Was nun am Wortlaut und am Inhalt genau nationalsozialistisch
sein soll, darüber hören wir wenig.
Simeon Thomson, ein Doktorand, der über die
„Kontaminierung“ des Librettos arbeitete, hielt zunächst die negative
Darstellung der Französischen Revolution durch Burte für ein Indiz
nationalsozialistischer Ideologie. Die Rädelsführer der Revolution werden von
Burte tatsächlich als fanatische, verbohrte Eiferer dargestellt – zum
Verwechseln ähnlich mit den Nationalsozialisten. Vielleicht hat Göring sich hier
getroffen gefühlt. Auch der Ausgang der Handlung, eine Explosion, in der das
Schloß Dürande auseinanderfliegt und alle untergehen, konnte wie ein Menetekel
an der Wand gelesen werden. Hitler und sein Anhang dagegen sahen die
Französische Revolution als Vorstufe der eigenen Sache. Goebbels gibt in seinem
Tagebuch ein Tischgespräch Hitlers wieder, in dem dieser die Französische
Revolution über den Klee lobt.
Wie löst man nun den Gordischen Knoten, um so eine Oper in
einer in politischer Korrektheit geknebelten Kulturwelt erneut aufführen zu
können? Das Burte-Libretto mußte „entkontaminiert“ werden. Damit befaßte sich
eine Forschungsgruppe an der Hochschule der Künste Bern unter Leitung von Thomas
Gartmann. Mit einem riesigen, wissenschaftlich verbrämten Aufwand wurde der
Burte-Text in die Mangel genommen und seine Ausweidung unternommen, mithin der
Text, den der Komponist zum Bestandteil seines Werkes gemacht hatte. Sechzig
Prozent des alten Librettos wurden herausgeschnitten und durch Originaltext der
Eichendorffschen Vorlage und Textteile aus anderen Eichendorff-Werken ersetzt;
dazu beauftragt war ein Berner Schriftsteller und Dichter namens Francesco
Micieli. Das hat zur Folge, daß nun dramatischer Dialog Burtes durch Erzählung
Eichendorffs unterbrochen wird, die oft in der dritten Person gehalten ist. Die
Idee,Originaltext von Eichendorff zu verwenden, hatte schon die Rundfunkredaktion
1943, als sie bei der Ausstrahlung der Oper, deren gesungener Text schwer
verständlich war, die Musik immer wieder unterbrach und einen Sprecher Text aus
Eichendorffs Novelle lesen ließ. Dieses Vorgehen des Senders machte Sinn, das
der universitären Forschungsgruppe um Thomas Gartmann nicht, es ist ein
Einknicken im Zeitgeist und vor dem Zeitgeist und ein Frevel am Werk Burtes und
Schoecks.
Dieses Produkt erfuhr dann Ende Mai, Anfang Juni 2018 zwei
konzertante Aufführungen im Stadttheater Bern. Chefdirigent war der bereits
zitierte Mario Venzago, er ist auch „verantwortlich für die musikalischen
Anpassungen an den neuen Text“. Der aus Basel stammende Musikkritiker Peter
Hagmann, durchaus kein Freund Burtes, merkte an, „die Schaffung eines neuen
Librettoszur Musik Schoecks“ sei „ein in der Musikgeschichte singulärer
Vorgang“, sieht man von Neutextierungen in der Barockzeit ab. Es habe auch
Eingriffe in den Notentext gegeben; die Partitur sei den neuen, textlichen
Gegebenheiten angepaßt worden – heute, so Hagmann, ein „eigentlicher Tabubruch“.
Neben „nationalsozialistischer Prägung“ wird dem Text Burtes vielfach auch ein
hölzerner Bau und eine ungeschickte Reimerei vorgeworfen. Man greift hier die
von Göring vorgeschobene Begründung wieder auf. Der Basler Musikkritiker fragt
zu Recht: „… käme jemand auf die Idee, den Stabreimen Wagners – so er sie nicht
aus ironischer Distanz heraus wahrzunehmen vermag – auf den Pelz zu rücken? Das
Loblied auf die ‚heil’ge deutsche Kunst‘ aus dem ‚heil’gen deutschen Reich‘ in
dessen ‚Meistersingern‘ zu eliminieren?“ [1]
Im März 2019 kam die kastrierte Oper auch szenisch auf die
Bühne, und zwar – nein, nicht im Schweizer Meiringen, sondern in Meiningen im
derzeit rot-rot-grün regierten Thüringen. Dort, im Meininger Staatstheater, hatte
der Berner Oberländer Philippe Bach die musikalische Leitung.
1935 wurde die Oper „Die schweigsame Frau“ von Richard
Strauss uraufgeführt, das Libretto stammte von einem Juden. Anders als heute bei
der Schoeck-Oper duldete man im dritten Jahr der nationalsozialistischen
Herrschaft den Text, man wollte aber den Namen des Dichters – es war Stefan
Zweig – und damit die jüdische Abkunft des Librettos auf dem Programmzettel und
auf den Plakaten verschweigen. Der Komponist widersetzte sich, drohte, er werde
abreisen und der Uraufführung seines Werkes nicht beiwohnen, wenn Zweig nicht
genannt würde. Er setzte sich durch. Wo sind heute Charaktere wie Richard
Strauss?
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[1] (Anmerkung des Schriftleiters des Westen [Dr.
Rudolf Benl]):
Hagmann unterlaufen in seiner Bezugnahme auf Richard Wagner gleich drei Fehler.
Erstens ist der Ausfall auf Richard Wagners dichterischen Stil unangebracht.
Richard Strauss, dem wohl ein zuverlässigeres Urteil darüber zuzutrauen ist als
einem Peter Hagmann, bezeichnet in seinem Geleitwort zu seinem letzten
Bühnenwerk, „Capriccio“, wenn er auf das bei Wagner herrschende „ideale
Verhältnis von Singstimme und Orchester“ zu sprechen kommt, die Bühnendichtungen
Wagners als „Verse, aus reinstem Gold der deutschen Sprache geschmiedet“, die
„der Inhalt von tiefsinnigen und erhebenden Werken“ seien, „in denen eine
richtige Abschätzung der Distanz von Bühne und Zuhörer vorwaltet, wie sie
vorbildlich nur noch in Schillers dramatischen Gedichten sich findet“. Dieses
Urteil eines hochgebildeten, genialen Musikers ist dem des Journalisten
sicherlich vorzuziehen. Zweitens schreibt Wagner in der Schlußansprache des Hans
Sachs und im Schlußchor der „Meistersinger von Nürnberg“ nichts vom „heil’gen
deutschen Reich“. Das dürfte Hagmann sehr wohl wissen, er konnte sich die
politisch korrekte Polemik aber offenbar nicht verkneifen. Bei Wagner heißt es
vielmehr: „Zerging in Dunst das Heil‘ge Römische Reich, uns bliebe gleich die
heil‘ge deutsche Kunst.“ Was Wagner schreibt, ist völlig zutreffend, denn der
Reichstitel war zu Hans Sachs‘ Zeiten „Heiliges Römisches Reich“. Drittens ist
sehr wohl schon jemand auf den Gedanken gekommen, an diesen Worten Wagners
politisch korrekt – den Begriff gab es vor 70 Jahren noch nicht, die Sache aber
sehr wohl – herumzupfuschen. Es war der linksliberale Musikwissenschaftler und
Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt, der gleich nach dem 2. Weltkrieg
forderte, es müsse in der Schlußansprache des Hans Sachs und im Schlußchor der
„Meistersinger von Nürnberg“ fortan gesungen werden: „… uns bliebe gleich die
heil‘ge europäische Kunst.“ Mittlerweile dürfte auch eine solche Version dem
Diktat der political correctness nicht mehr entsprechen.
Siehe auch: Dr. Rudolf Benl: Gedanken nach einer Aufführung der Oper „Das Schloß Dürande“