Zum 50. Todesjahr von Hermann Burte
Hermann Burte, Sekretär Ernst und Hanns Ludin
von Harald Noth, am Silvestertag 2010
Die Art von Kritik, die man heute „politisch korrekt“ nennt, begleitet den deutschen und alemannischen Dichter Hermann Burte (1879-1960) seit dem Kriegsende. Sie erreichte zu seinen 80. Geburtstag 1959 einen ersten Höhepunkt und wurde in den nunmehr 50 Jahren seit seinem Tod in Wissenschaft und Medien dominierend.
Einer der Pfeile, deren Ziel der Dichter darstellt, ist die Behauptung, er habe schon früh in der Weimarer Republik die SA und damit Hitler unterstützt. So berichtete der SWF-Rundfunkredakteur Wolfgang Heidenreich in einer vielbeachteten und folgenreichen
Sendung am 19. November 1978:
„1923 [...] Zeitweilig ist der Flachsländer Hof Anlaufadresse für die verbotene SA“.
Dieser Hof war der Wohnsitz von Burte. Am 12. September 1989 brachte die Badische Zeitung in Stadt und Kreis Lörrach einen großen Artikel von Wolfgang Göckel, überschrieben mit:
„Die Partei organisierte das Leben. NSDAP hatte keine Nachwuchssorgen – Burte als Postadresse der SA“.
Auch die Ausstellung „Hermann Burte und der Nationalsozialismus“ 2007 in Lörrach verlautbarte schon im Ausstellungsprospekt, Burte habe
"seit den 1920er-Jahren Kontakt zu Männern [...] der SA"
gehabt.
Zuletzt bemühte sich die junge Germanistin Kathrin Peters, eine Unterstützung der SA, mithin der NSDAP, durch Hermann Burte schon 1923/24 zu beweisen – und zwar in ihrer von Prof. Dr. Rolf Düsterberg betreuten Arbeit „Hermann Burte – der Alemanne“1, die 2009
erschien und hier
besprochen ist. Damit wäre der Dichter nicht erst Mitte der 30er Jahre zum aktiven Unterstützer des Nationalsozialismus geworden, sondern über ein Jahrzehnt früher! Wir folgen der Argumentation der jungen Wissenschaftlerin ein Stück und werden sehen, ob sie Hand und Fuß hat.
Die Basis für die Behauptung von Peters und ihrer Vorgänger findet sich im Gratifikationsbändchen „Hermann Burte - zum 60. Geburtstag des Dichters am 15. Februar 1939“. Es enthält einen Bericht2 von Emil
Ernst, dem langjährigen Sekretär von Hermann Burte, über seine Erlebnisse mit dem Dichter und Maler.
Um diesen Sekretär als Quelle richtig einzuschätzen, muss man die Zeitumstände berücksichtigen. Sein Bericht ist geschrieben, als er und sein Arbeitgeber sich in die nationalsozialistische Herrschaft eingefügt hatten und sie wirklich unterstützten (doch zumindest Burte tat dies nicht immer unkritisch). In diesem Bändchen fehlt jedoch jeder Hinweis auf Burtes Tätigkeit von 1919 bis 1933 in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und darauf, dass er sich als Deutschnationaler mit der NSDAP angelegt hatte. Burte hatte in der entscheidenden Phase vor der Machtergreifung Hitlers sich nicht nur die lokalen Nationalsozialisten zum Feind
gemacht, beträchtliche Wut auf den Dichter scheint auch in
einer Polemik des in München erscheinenden Völkischen Beobachters am 19.
November 1932 durch, in der es heißt:
"Daß der Dichter des 'Wiltfeber' und 'Katte' sich heute im Dickicht autoritärer Phraseologie verfangen hat und sich nicht wiederzugebende Beschimpfungen des erwachenden Deutschlands leistete [...], das ist eins der traurigsten Kapitel aus der jüngsten Vergangenheit, auf das wir in anderem Zusammenhang noch eingehend zu sprechen kommen müssen."
Dies ist einer der Teile in Burtes Leben, die 1939 in dem Gratifikationsbändchen ausgeklammert werden mussten, mehr noch: davon musste abgelenkt werden, denn mit dem Büchlein sollte dem Dichter ja nicht geschadet werden, sondern er sollte eine Freude daran haben. Sich mit „Unterstützung der SA“ in den „Kampfzeiten“ vor 1933 zu brüsten, war 1939 dagegen opportun – von Ernst und auch von Burte, der es unterließ, seinen eifrig plaudernden ehemaligen Sekretär zurückzupfeifen. Der von der Partei lange beargwöhnte Dichter erbrachte hier eine Anpassungsleistung, die ihm notwendig erschien, wenn er völlig rehabilitiert werden wollte. Dichtung und Malerei waren schließlich sein Broterwerb.
Wie äußerte sich nun Sekretär Ernst 1939? Kathrin Peters zitiert ihn wie folgt:
„So gab es einmal eine Zeit, in der die SA. [!] verboten war. Die Post an die Partei und SA. [!] wurde überwacht. Trotzdem mußten Befehle übermittelt werden. Gruppenführer Ludin sandte die Post privat von Karlsruhe an Dr. Strübe-Burte in Lörrach mit der Bitte, diese an den damaligen SA.-Standartenführer auszuhändigen, was ich besorgen konnte, ohne daß sie erwischt wurde. Hausdurchsuchungen gab es auch, aber ohne Erfolg.“3
Die politischen Burtekritiker einschließlich Kathrin Peters beziehen diese Aussage auf die Verbotsphase vom 23. November 1923 bis Februar 1925, obwohl doch Ernst auch das kurze Verbot der SA vom 13. April bis 6. Juni 1932 gemeint haben könnte (und tatsächlich gemeint hat).
Die Schlüsselfigur aus der SA, mit der sich Burte eingelassen haben soll, heißt also Ludin und ist Gruppenführer – ein hohes Tier in der
SA im Südwesten. Kathrin Peters beleuchtet diesen Hanns Ludin noch weiter: Er war später „als Deutscher Gesandter an der Deportation der slowakischen Juden
beteiligt“4.
Was tut dieser Hinweis, der sich auf die Tätigkeit Ludins vermeintlich 20 Jahre später bezieht, zur Sache? Der SA-Gruppenführer dürfte, wie der Leser da rückwärts schließen muss oder soll, dann doch wohl auch schon 1924 kein harmloser Mann gewesen sein. Mit einem, der 20 Jahre später an der Deportation von Juden beteiligt ist, möchte ich schon heute nicht frühstücken, korrespondieren oder seine Post weiterleiten. Anscheinend aber Burte.
Burtes „Freundschaft“ mit Ludin
Wie kamen nun Ludin und Burte zusammen? Peters meint zu wissen: „Nach dem Ersten Weltkrieg verbrachten Burte und Ludin gemeinsam einige Zeit in Festungshaft in Rastatt, wo sich offenbar eine Freundschaft zwischen den beiden entwickelte.“5
Wir erfahren damit, dass Burte nicht nur Unterstützer der SA war, sondern auch nach damaliger Gesetzeslage irgendwie (politisch) kriminell – warum sonst sollte er in Festungshaft gesessen haben? Bei Weitem nicht alle SA-Männer und
Nationalsozialisten sahen das Gefängnis der demokratischen Republik von innen. Burte aber.
Ein Blick selbst in die politisch korrekte Wikipedia zeigt uns, dass diese Geschichte nicht stimmen kann. Hanns Ludin ist Jahrgang 1905 und saß nach dem Ersten Weltkrieg sowenig in der Rastatter Festungshaft wie Burte, sondern drückte eine Schulbank im Freiburger Berthold-Gymnasium. Doch 1923 riss es Ludin aus der beschaulichen Bahn seines kleinbürgerlichen Lebens heraus. Sein früherer Mitschüler, Albert Leo Schlageter, wurde von der französischen Besatzung des Ruhrgebiets hingerichtet – der Auslöser für Ludin, „endlich etwas gegen die Verhältnisse zu tun".6 Die „Verhältnisse“ – das waren für Ludin die “Knechtung Deutschlands“ durch den Versailler Vertrag und die
Siegermächte des Ersten Weltkriegs. 1924 trat er in die Reichswehr ein und beteiligte sich am konspirativen Versuch, zu erreichen, dass die Armee im Falle einer nationalen Erhebung nicht auf die Revolutionäre schießt. Er wurde am 10. März 1930 verhaftet, etliche Jahre später als Peters annimmt, und saß erst dann in Rastatt ein; Anfang Juni 1931 wurde er begnadigt.
Im April 1932 begann das zweite, nur neunwöchige Verbot der SA. Der ohne Zeitangabe versehene und sehr vage gehaltene Bericht von Sekretär Ernst
macht nur Sinn, wenn er sich auf diese kurze, zweite Verbotsphase bezieht. Da Frau Peters die „SA-Kontakte“ Burtes aber auf die Zeit um 1924
datiert7, muss sie auch die Festungshaft, in der die „Freundschaft“ Burtes und Ludins entstanden sein soll, zurückdatieren – auf „nach dem Ersten Weltkrieg“.
Burte saß aber auch 1930/31 nicht mit Ludin im Gefängnis. Es gab jedoch einen Briefwechsel zwischen Burte und dem inhaftierten jungen Leutnant. Emil Ernst schreibt:
„Das Vertrauen Ludins beruhte auf der Freundschaft, die Burte ihm während seiner Festungshaft in Rastatt bewies. Der Briefwechsel zwischen den beiden gleichgesinnten Kämpfern war ein herzlicher und Obergruppenführer Ludin denkt noch heute gerne an die Tage zurück, die ihn mit dem Dichter in kameradschaftlicher Weise verbunden haben.“
Was ist an dieser Darstellung wahr? Burte hat Hanns Ludin tatsächlich in der Haftanstalt angeschrieben, vielleicht sogar mehrfach. Wie muss man sich nun
einen Briefwechsel „gleichgesinnter Kämpfer“ vorstellen? Im Hermann-Burte-Archiv in Maulburg findet sich als Spur dieser Sache der Brief Hanns Ludins an Burte vom 25. September 1930. Aus diesem geht hervor, dass Burte ihm zuvor über die
„Madlee“ geschrieben hat,
und Ludin antwortet, dass er sie (diesen alemannischen Gedichtband Burtes) besessen und immer mit sich geführt habe. Der Brief Burtes war mit einem Geschenk verbunden: seinem Lyrikband „Ursula“, der mit einer Widmung in „schönen und ehrenden Worten“ an Hanns Ludin und seinen Vater Fritz versehen war. Burtes Brief muss auch ein Lob enthalten haben, vielleicht bezüglich des Muts des nationalen Revolutionärs, denn dieser gab seiner Befürchtung Ausdruck, dass Burte ihn überschätze. Der junge Gefangene spricht im Brief den angeblichen „gleichgesinnten Kämpfer“ keineswegs „in kameradschaftlicher Weise“ an, sondern er wendet sich in höchster Bescheidenheit und als ergebener Verehrer mit „sehr geehrter Herr Doktor“
an den Dichter und 26 Jahre Älteren.
Mit dem Vater des Inhaftierten war Burte dagegen befreundet im heutigen Sinn. Ein reger Briefwechsel und persönliche Kontakte zwischen Burte und Fritz Ludin hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnen. Ludins Eltern waren deutschnational gesinnt, malten beide wie Burte, Fritz schrieb auch Verse und Johanna Ludin stammte aus Lörrach, dem Wohnort Burtes.
In einem Brief vom 16. Februar 1931 fragt Fritz bei Burte an: „Gingst Du einmal mit mir Sonntags zu Hanns?“8 Zu einem Besuch Burtes bei Hanns in der Festung kam es zwar nicht. Aber an seiner Verbundenheit mit der Familie Ludin gibt es keinen Zweifel. Nicht zuletzt aber dürfte Burte in der Inhaftierung des jungen Ludin eine Repressionsmaßnahme gegen das nationale Lager gesehen haben, die ihn empörte.
Hanns Ludin
Der deutschnationale Dichter heimst 1939 für diese „Freundschaft“ mit dem hohen SA-Mann also die Bewunderung seines ehemaligen Sektetärs und nationalsozialistischen Parteigenossen Ernst ein, bei der
Kritik seit 68 dagegen wird
sie ihm als Sündenfall angerechnet. Bleiben wir daher noch etwas bei Hanns Ludin.
Während der Festungshaft und der Korrespondenz mit Hermann Burte hatte sich der Häftling noch gar nicht endgültig für die SA und den Nationalsozialismus entschieden; dies geschah erst nach seiner Freilassung am 6. Juli 1931.9 Er hegte noch 1934 die Illusion, mit der SA und Hitler würde es in einer zweiten Welle der Revolution zur Brechung der „Zinsknechtschaft“ kommen, zu einem nationalen Sozialismus.10
Diese Hoffnung hatten viele in der SA, bis Hitler in einer „Nacht der langen Messer“ (30. Juni 1934) zahlreiche ihrer höheren Führer ermorden ließ. Ludin aber, damals schon SA-Gruppenführer, wurde von Hitler „zum Leben verurteilt“11. Nach diesem Ereignis, dem sogenannten „Röhm-Putsch“, wollte Ludin in die Schweiz emigrieren, um von dort aus „die Revolution in Deutschland vorzubereiten“12, fand sich dann aber mit der Naziherrschaft ab und fügte sich endgültig ein.
Hanns Ludin scheint schon als junger nationaler und sozialistischer Revolutionär, aber auch später als Nationalsozialist eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen zu sein. Im Winter 1924/25 begannen er und
sein Freund Richard Scheringer, ebenfalls Reichswehrsoldat, Russisch zu lernen – dies erschien ihnen nützlich, denn sie waren überzeugt, „daß eine deutsche Befreiung zum mindesten die russische Rückendeckung, wenn nicht sogar ein deutsch-russisches Militärbündnis, zur Voraussetzung habe“.13
Sie nahmen jahrelang Unterricht und bereiteten sich auf die Dolmetscherprüfung vor. Sie sahen die Sowjetunion und die slawischen Völker nicht ohne Sympathie – letzteres wird dazu beitragen, dass Ludin im Krieg in der Slowakei Dienst aufnimmt.
Richard Scheringer wurde 1930 wie Ludin beschuldigt und verurteilt, kam aber in eine andere Haftanstalt und wurde dort unter dem Einfluss von Mithäftlingen Kommunist. Doch die Freundschaft zwischen dem Nationalsozialisten und dem Kommunisten dauerte weiter und bestand
selbst im Dritten Reich erhebliche Proben. „Hanns wird in den kommenden Jahren seine schützende Hand über Richard halten und ihm einige Male das Leben retten“14, schreibt Alexandra Senfft, eine Enkelin Ludins.
Als Ludin schließlich Anfang 1941 deutscher Gesandter in der Slowakei wurde, wollte er aus dem formell selbständigen Satelitenstaat ein „'Muschterländle'
deutscher Führungspolitik“ machen und zeigen, dass das "auch ohne Polizeimaßnahmen" geht.15 Er war mit führenden slowakischen Politikern persönlich befreundet.
Nach dem Krieg stellte sich Hanns Ludin freiwillig den Amerikanern, schlug verschiedene Fluchtmöglichkeiten aus und übernahm die „Verantwortung für alles, was in der Slowakei geschah“. Er versuchte damit, seine slowakischen
politischen Partner zu entlasten, die bereitwillig mit Deutschland kolaboriert
hatten und bei den Deportationen der Juden zum Teil treibende Kraft gewesen
waren. Ernst von Salomon registrierte dies mit Entsetzen16, denn damit wählte Ludin den fast sicheren Tod, während andere Nazigrößen sich durch Flucht oder Selbstmord der Verantwortung entzogen. Scheringer dagegen stieg in die Führungsgarnitur der deutschen Kommunisten auf. Er versuchte wie andere, bei den Slowaken „ein gutes Wort einzulegen, schließlich bestand die Hoffnung, dass man auf ihn als Vorsitzenden der Kommunistischen Partei in Bayern eher als auf andere, vorbelastete Deutsche hören würde.“17 Doch alle Eingaben brachten nichts. Am 9. Dezember 1947 wurde Hanns Ludin in Bratislava erhängt.
Das Maß der Schuld des deutschen Gesandten an der Deportation zehntausender slowakischer Juden (und ihrem Tod in Konzentratioslagern) kann hier nicht beurteilt werden. Es ist selbst in Ludins Familie umstritten: Zwei publizistisch tätige Nachkommen Ludins bejahen diese Schuld voll, ein anderer Teil der Familie sah/sieht sie nicht oder relativiert sie.18
Auch der Deutschnationale Burte scheint Anfang der 30er Jahre diesen Mann, der vom Kommunisten Richard Scheringer und vom Dichter und Hitlergegner Ernst von Salomon für umgänglich und liebenswürdig gehalten wurde, der Zuneigung für würdig gehalten
zu haben.
Seltene Begegnungen und Briefkontakte zwischen Burte und Ludin gab es bis in den Krieg hinein.
Burte schrieb 1946 oder wenig später das Gedicht "Im Exil" - er hat es nie veröffentlicht. Die politisch korrekte Burtekritik hat es dennoch gefunden und an die Öffentlichkeit gebracht.19 Darin heißt es:
"Die Besten meines Volkes sind verbannt,
In Lagern liegend und in Kerkern siechend."
Hermann Burte hat hier gewiss die deutschen Soldaten gemeint, die noch nicht heimgekehrt waren, aber wahrscheinlich auch Männer wie Hanns Ludin.
Was ist an der frühen „Unterstützung der Nationalsozialisten“ dran?
Niemand kann Burte wegen seiner „Freundschaft“ mit dem Sohn seines Freundes Fritz,
also mit dem jungen nationalen Revolutionär und späteren SA-Mann Ludin einen Strick drehen - er müsste sonst auch
den Kommunisten Richard Scheringer würgen.
Doch es bleibt die Aussage seines Sekretärs, über die Adresse des Dichters sei Post für die SA gelaufen. Nun haben wir oben schon gesehen, dass sich die Zeugenschaft des Emil Ernst durch nebelhaftes Schönfärben auszeichnet – „schön“ im Sinne der Zeit, in der er schrieb. So berichtet
er im Gratifikationsbändlein auch, Burte sei „Antisemit“, was wohl nicht extra betont zu werden brauche. Die Burte-Kritikerin Peters kolportiert es und auch die Schilderung, wie Burte 1928 einen „jüdischen Weinreisenden“ unsanft aus dem Haus geworfen habe.20
Wozu erzählt Ernst 1939 diese Geschichte, wenn der Antisemitismus Burtes nicht extra betont zu werden braucht? Die Erklärung ist einfach: Es muss von Burtes früherer Freundschaft zum Juden Walther Rathenau abgelenkt werden. Oder von der Tatsache, dass der Markgräfler Dichter nach 1926 verschiedentlich mit dem elsässischen Dichter, Handelsreisenden und Juden Nathan Katz freundschaftlich im Lörracher Hirschen saß,
mit ihm über Johann Peter Hebel diskutierte und ihm sogar Kunden vermittelte.21 Oder dass Burte eine sehr wohlwollende Besprechung des Mundartdichters Katz im
Markgräfler vom 20. Juli 1930 brachte und ihn in einer Rundfunkansprache am 23. August 1931 zu den „herrlichen Sängern des Elsasses“22 zählte. Über diesen freundschaftlichen Umgang Burtes mit Juden zu berichten war 1939 nicht opportun – das Gegenteil musste hergezogen werden, und sei es
an den Haaren.
Wie sehr sind wir nicht alle Kinder unserer Zeit! Im Jahre 1964 lud Emil Ernst
im Auftrag des Hebelbundes Lörrach diesen Nathan Katz dazu ein, bei einem literarischen Abend
in Lörrach zu sprechen, er empfahl ihm auch, beim Hebelmähli in Hausen
aufzutreten.23
Auch eine Aufführung des alemannischen Katz-Stückes „Annele Balthasar“ in Lörrach war im Gespräch.24 Die politische Großwetterlage erlaubte
nun, ja, gebot es, auch einem jüdischen Dichter wieder herzlich zu begegnen. Und siehe, Emil Ernst tat es.
Wenn im Jahre 1932 der DNVP-Mann Burte vom SA-Gruppenleiter Ludin Briefe
angenommen und ihre Weiterreichung erlaubt haben sollte, wäre dies politisch nicht zweckmäßig, denn die SA stand in Rivalität zur DNVP. Der deutschnationale Dichter leistete sich sogar einen monatelangen, zum Teil offenen und nicht ungefährlichen Krach mit den
Nationalsozialisten, der zur Zeit des SA-Verbots im Frühling 1932 oder wenig später begann. Burtes Auflehnung wurde erst durch die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten hinter verschlossene Türen verbannt und ausgebremst. Sollten in den neun Wochen des SA-Verbots diese Briefe, in denen „Befehle übermittelt“ worden sein sollen, tatsächlich im Briefkasten des deutschnationalen Dichters angekommen sein und von Ernst vielleicht ungeöffnet weitergereicht worden sein, wäre darin keine politische Tätigkeit Burtes für die SA zu sehen, sondern eine Gefälligkeit unter Freunden und Bekannten, wie sie auch im linken Lager denkbar wäre. So könnte in einem Städtlein des Markgräflerlands auch ein Sozialdemokrat in einer Verbotsphase der KPD (1919, 1924, 1933 oder 1956) einmal Briefe für einen Freund und Kommunist transportiert haben – wir wissen es nicht und wenn ja, würden wir uns nicht empören – wohl auch Kathrin Peters nicht. Aber sie macht aus der Sache mit der Post Ludins eine „verdeckte“ Tätigkeit Burtes, „gleichsam im Untergrund, und zwar zugunsten des schärfsten und radikalsten Antipoden des ‚Systems’, zugunsten der Nationalsozialisten.“25
Schluss
Hermann Burte hat einmal seinen Polemikern entgegengehalten:
"Ungefährlich ist das Gift
Des Pfeiles, der daneben trifft!"
Hier zeigen sich die Grenzen eines dichterischen Bildes. Die Unwahrheit ist durchaus gefährlich für manche – nämlich die Unwissenden. Unwissende gehen so weit, dass sie ihren Vater morden - die griechische Sage um Ödipus lehrt es uns. Besonders verführerisch sind Lügen, in denen Spuren von Wahrheit stecken und die vom Zeitgeist genährt sind. Burte ist ihnen in dem halben Jahrhundert seit seinem Tod zum Opfer gefallen.
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"Gebis Gott so Manne no meh [...]!"26
Am heutigen Tag geht das 250. Geburtsjahr von Johann Peter Hebel zu Ende. Es wurde in der Alemannia und darüber hinaus mit
über 150 Veranstaltungen und zahlreichen Publikationen gebührend gefeiert. Hermann Burte hat
von seiner Schulzeit bis zum Sterbebett den alemannischen Dichterfürst Hebel wie kein Zweiter verehrt. Burte, der sich
der Faszination des nationalsozialistischen Staates meist nicht oder nicht ganz entziehen konnte, hat
seinen Vorgänger und sein Vorbild auch im Dritten Reich hochgehalten, so in
seiner "Rede auf Hebel" 1935.27
Er hat ihn mit seinem großen alemannischen Gedicht „Hebel rassisch!“28 öffentlich gegen nationalsozialistische Rassentheoretiker verteidigt.
Aber: In dieser Rede wog er den geliebten Dichter mit den Worten und Sichtweisen
seiner Zeit. In "Hebel rassisch!" übte er zwar eine Kritik des
nationalsozialistischen Rassismus, jedoch keine so fundamentale Kritik, dass sie
heutigen Anforderungen genügen würde.
Das kreiden ihm heutige Kritiker29 an.
Dabei war Hebel für Burte auch 1933 bis 1945 der "beste Mann"30
der Alemannen, seine 1935 und erneut 1943 publizierte Rede kommt de fakto einem
Aufruf gleich, die "Alemannischen Gedichte" und die
Kalendergeschichten Hebels auch im nationalsozialistischen Staat an oberste
Stelle zu setzen und zu lesen. Hebel
ist für Burte auch im Dritten Reich "Wegweiser zum deutschen Wesen"31.
Unsere Zeit begreift nicht mehr, was das bedeutete. Der damalige
Propagandaminister dagegen besaß genügend Lesekompetenz, um derartige
Abweichungen zu erkennen; er schätzte Burte folgendermaßen ein: "Keine
Leuchte. Ein alemannischer Spießer."32
Am heutigen Tag geht auch das 50. Todesjahr von Hermann Burte zu Ende. Der bedeutende deutsche Dichter wurde
draußen in dem Land, das er liebte, an seinem 50. Todestag mit einem (!)
öffentlichen Nachruf geehrt, und zwar in einer Zeitschrift, die in Sachsen-Anhalt in einem Ort namens Albersroda erscheint und
von dort in einer bescheidenen Auflage ins Land hinausgeht.
Burte war von 1923, als seine "Madlee"
erschien, bis in die 70er-, 80er-Jahre hinein der beliebteste lebende alemannische Dichter, mithin war er der beliebteste zeitgenössische alemannische Dichter des 20. Jahrhunderts überhaupt. Er wurde
zu Lebzeiten von seinen alemannischen Zeitgenossen in Baden, in der deutschen
Schweiz, im Elsass und darüber hinaus fast einhellig neben den großen Hebel gestellt. Mit dem vorliegenden
und einem weiteren, zeitgleich
entstandenen Artikel soll
am letzten Tag seines 50. Todesjahres auch aus der alemannischen Heimat heraus
dieses einmal Größten neben Hebel öffentlich gedacht werden.
Was meine ner do drzue? Was meinen Sie dazu?
Schriibe an/Schreiben Sie an meinung@noth.net!
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Anmerkungen
(1)
Kathrin
Peters: Hermann Burte – der Alemanne. In: Dichter für das »Dritte Reich«
– Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie“, im Jahr
2009 herausgegeben von Rolf Düsterberg, S. 18 - 47
(2)
Hermann Burte - zum 60. Geburtstag des Dichters am 15. Februar 1939, Sonderdruck des Oberbadischen Volksblattes Lörrach, 1939, S. 53 – 56
(3)
Kathrin Peters, .a .a. O., S. 32; die Ausrufezeichen stammen von Peters
(4) Kathrin
Peters, a. a. O., S. 32, Fußnote 69
(5)
ebenda
(6)
Dazu Richard Scheringer: Unter Soldaten, Bauern und
Rebellen. Das Große Los. München 1979; Köln 1988, S. 118
(7) Kathrin Peters, a. a. O., S. 32
(8)
Brief von Fritz Ludin an Hermann Burte, 16. Februar 1931, Hermann-Burte-Archiv
(HBA) Maulburg
(9)
Richard Scheringer, a. a. O., S. 207
(10)
Richard Scheringer, a. a. O., S. 271
(11)
zit. bei Ernst von Salomon: Der Fragebogen.
Stuttgart 1951, S. 795
(12)
Richard Scheringer, a. a. O., S. 281
(13)
Richard Scheringer, a. a. O., S 132
(14)
Alexandra Senfft: Schweigen tut
weh. Eine deutsche Familiengeschichte. Berlin 2007, S. 54
(15)
Alexandra Senfft, a. a. O., S. 77
(16)
Ernst von Salomon: Der Fragebogen.
Stuttgart 1951, S. 780
(17)
Alexandra Senfft, a. a. O., S. 42
(18)
Der Versuch der Aufarbeitung der Vergangenheit von Hanns Ludin in seiner Familie
ist bei Alexandra Senfft, a. a. O., am mehreren Stellen beschrieben,
zusammenfassend S. 16.
(19)
Ulrike Falconer verwies in ihrer Artikelserie 2004 in der Badischen
Zeitung auf das Gedicht. 2007 wurde es in der Ausstellung "Hermann Burte und der
Nationalsozialismus" in Lörrach gezeigt.
(20)
Kathrin Peters, a. a. O., S. 26
(21)
Victor Hell: Nathan Katz. Itinéraire
spirituel d’un poète alsacien. Colmar 1978, S. 36
(22)
Der Markgräfler - Freie deutsche
Zeitung für das schaffende Volk in Stadt und Land, 1.
September 1931
(23)
Brief von Emil Ernst an Nathan Katz, 22. April 1964, HBA
Maulburg
(24)
Brief von Nathan Katz an Emil Ernst, 4. Juni 1964.
HBA Maulburg
(25)
Kathrin Peters, a. a. O.; S. 32
(26) Gebis = gebe uns; no meh
= noch mehr. Aus einem Gedicht von Hermann Albrecht auf Hebel, zitiert von
Burte in seiner "Rede auf Hebel", 1935.