Ein erschütterndes deutsches Passionsspiel im Elsass

Seit 1930 wird im oberelsässischen Masevaux (Masmünster) alljährlich ein Passionsspiel aufgeführt - bis heute in der deutschen Hochsprache. Weit über 100 Schauspieler aus "Maswo" und Umgebung bringen das Leiden, das Sterben und die Auferstehung Christi auf die Bühne des großen Vereinshauses St. Martin. Schon in der ersten Szene treten dutzende in historische Gewänder gekleidete Junge, Alte, Männer, Frauen, Kinder auf die Bühne und begrüßen begeistert mit Palmzweigen den auf einem (echten!) Esel vor der Kulisse von Jerusalem einreitenden Jesus.

Solche faszinierenden Bühnenbilder und Handlungen erlebt man bis an das Ende der Vorstellung, wobei die akustischen und optischen Effekte umso wirkungsvoller sind, als sie sparsam eingesetzt werden. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in einer solchen Intensität mit der Darstellung der Passion Christi konfrontiert; das Schauspiel dauert nämlich über 12 Akte hinweg fünf Stunden. Dieses Erlebnis ging für mich über den Eindruck der Lesungen in den Gottesdiensten am Palmsonntag, den Tagen der Karwoche und an Ostern hinaus.

Das Stück wurde vom katholischen Priester Auguste Schmidlin in den 1920er Jahren geschrieben. Gewiss stand die religiöse Erbauung des Publikums (und auch der Spieler) für ihn im Vordergund und sie tut es für die Pfarrgemeinde St. Martin auch heute noch. Ich vermute aber, man konnte die eine oder andere Szene der Passion auch politisch lesen. Nach der Rückgewinnung des Elsass 1918 durch Frankreich versuchten die Regierungen in den 20er und 30er Jahren das Deutschtum im Elsass auszulöschen. Dazu gehörte die weitgehende Unterbindung des Deutschen in der Schule und damit der Muttersprache der meisten Elsässer. Der Widerstand gegen die Auslöschung der kulturellen Eigenart und Eigenständigkeit des Elsass kam vom Katholizismus und der autonomistischen Bewegung, die miteinander verwoben waren. Einer der wichtigsten katholischen und regionalistischen Politiker war Joseph Rossé. Das Elsass erlebte in den 20er und 30er Jahren einen Kulturkampf mit erheblicher Repression durch die Zentralregierung und Verfolgung der Autonomisten durch Prozesse, es erlebte aber auch Erfolge der Bewegung, hinter der große Teile des Volkes standen.

Die lange Dauer des Passionsspiels und seiner Akte und Szenen bieten viel Raum zum Nachdenken. Der Jerusalemer Hohe Rat, der die damalige jüdische religiöse Oberschicht repräsentierte, sah in Jesus seinen Todfeind und wollte seine Vernichtung. Die Passion erhält ihre ganze Dimension aber erst dadurch, dass Jesus von dem Volk, das ihn zuvor bejubelte, nun verraten wird - die Juden, die ihn erst mit Hosianna begrüßt hatten, verlangen, angestiftet durch den Hohen Rat, seinen Tod. Doch nicht nur vom verführten und aufgehetzten Volk, sondern auch aus den Reihen seiner Jünger kommt Enttäuschung. Pfarrer Schmidlin räumt dem Verrat des Judas, der seinen Meister Jesus für 30 Silberlinge verkaufte, viel Raum ein, so auch dem Versagen des Petrus, der den Herrn drei Mal verleugnete. Mich würde wundern, wenn es nicht auch im politischen Leben der Zeit von Pfarrer Schmidlin solche Vorgänge gegeben hätte. Es gelang mir an dem Nachmittag in Masmünster nicht, den Gedanken abzuwehren, dass es das auch heute gibt. So, wenn ein Volk von seiner Intelligenz verraten wird und es sich gegen seine eigenen Interessen wendet. So, wenn in einer Partei die Besten verraten werden oder die Frage "Bist nicht auch du einer der Galiläer?" mit einer feigen Distanzierung beantwortet wird. Eine Anwendung auf den Sprachkampf im Elsass nach 1945 entsage ich mir. Abbé Schmidlin musste vieles erleben, vieles war ihm erspart: Er starb 1943.

Auch die Verhandlungen vor Gericht sind von seinem Text und der Regie breit ausgeführt; hier wird sehr deutlich, dass nicht der römische Prokurator und Besatzungschef Pilatus den Tod Jesu wollte, sondern sein eigenes Volk. Zeugen bekennen zwar, Jesus habe nur zum Wohle des Volkes gewirkt und Pontius Pilatus kann nichts Unrechtes im Handeln Jesu finden. Aber er weicht vor dem Volk zurück, das in Pogromstimmung ist und bricht den Stab über dem Gefangenen und Angeklagten. Erstaunlich, dass ihm das selbst in den Reihen der Römer als Feigheit angekreidet wird - nämlich von seiner eigener Frau, die Jesus auf der Straße lehren und heilen gesehen hat und von einem eigenen hohen Offizier.

Das Passionsspiel in Masevaux hat ganz im Vordergrund eine religiöse Dimension. Über die politische, die ich zu erkennen meinte, habe ich gesprochen; mit ihr verbunden ist ein weiterer Aspekt, der mich erschüttert hat. In dieser Passion bäumt sich die deutsche Sprache im Elsass noch auf. Der Texter Auguste Schmidlin schrieb noch vor weniger als 100 Jahren ein klassisches Hochdeutsch und durfte es seinem Publikum zumuten, es kommen darin Sätze vor wie "... des Meisters Feinde? Hat er deren auch? ...", "... ich muss hier meines Sohnes harren ...", "... bis meiner Zähren Flut versiegte ...". Gewiss verstand schon damals nicht jedes Kind jeden Satz oder Ausdruck, aber die biblische Handlung war ja damals der Jugend noch viel präsenter als heute und den Zuschauern, die heute aus dem Elsass, Baden und der Schweiz in Masevaux waren, ist sie es noch immer - es waren nämlich überwiegend ältere Leute in diesem großen Theatersaal alten Stils. Die Passion sprach und spricht sehr stark durch das, was man auf der Bühne sieht und es ist kein 100-prozentiges Verständnis des Textes notwendig. Es war jedenfalls zu spüren, dass vielen der jungen und etlichen der älteren Schauspieler Elsässerditsch, das Deutsch des Elsass, nicht mehr von der Mutter gelernte Sprache, auch nicht täglich gesprochene Zweitsprache ist. Damit wird die hochdeutsche Standardsprache zur Fremdsprache, ein auswendig gelerntes Idiom.

Weitere Aufführungen in 2018 sind am 18. und am 25. März jeweils um 14.00 bis 19.00 Uhr. Kartenvorverkauf 0033 389 82 43 02 (werktags 9.00 - 12.00), www.passion-masevaux.fr

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